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Tour´97 - Die Karpaten auf einmal! / Bericht von Falk aus Norsingen bei Freiburg

Karpaten`97 - Teil 2 / 1 / 3

Autor: Falk Kienas ... http://www.karpatenbilder.net

Inhalt Seite: 2 ... [Durchs Fagaras-Gebirge] [Zum Bucegi-Massiv] Die Ostkarpaten - südlicher Teil: [Massivul Ciucas - Der Krähenstein] [Brasov] [Das Penteleu-Massiv] [Das Ciomatu- und Bodoc-Gebirge] [Das Ciuc-Gebirge] [Die Maramures] In der Ukraine: [Einreise] [Die Schwarzen Berge] [Das Swidowetsmassiv] [Zum Ozero Sinewir] [Die Polonias]


Durchs Fagaras-Gebirge
 
Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen, heißt ein Sprichwort. Was man beim Start einer Tour nicht im Rucksack hat, kann mitunter zu Problemen führen, besonders zu einer Zeit, wenn sich der Durchschnittsbürger auf die Nachtruhe vorbereitet.
Hans-Jürgen brauchte noch Benzin für seinen Kocher. Er merkte es bei Einbruch der Dämmerung in Turnu Rosu, einem Dörfchen am Fuß des Fagaras -Gebirges. Von hier wollten wir morgen früh den Aufstieg beginnen.
Zum Glück sind die Zeiten, wo es Sprit auf Zuteilung gab, ein für allemal vorbei. So sollte eine Brennstoffversorgung im Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten kein Problem darstellen. Hans-Jürgen betrat den erstbesten Bauernhof und bat um Hilfe, die ihm im Handumdrehen gewährt wurde.
Der Mann tat einen kräftigen Zug an einem Ende des Plastikschlauches, spuckte aus und schon lief die gelbliche Flüssigkeit aus dem Tank seines Dacias in Hans- Jürgens rote Benzinflasche. Im Dorf war es bereits stockfinster, doch Hans-Jürgens Augen leuchteten, jetzt fehlte nichts mehr.
Viele Wege führen zum Fagaras-Kamm. Die meisten Wanderer begannen ihren Aufstieg, oder beendeten ihre Tour an der Cabana Suru, 10 km weiter im Osten. Seit jedoch ein Feuer auch die Suru-Hütte vernichtete, ein Schicksal was meiner Meinung nach früher oder später alle Karpatenhütten ereilen wird, ging es auf dem Weg von Turnu Rosu äußerst lebhaft zu. Eine Gruppe Rumänen mit Hund, fünf Tschechen, vier Ungarn in Tarnuniformen mit furchterregenden Messern am Gürtel und drei Deutsche lieferten sich ein Wettrennen zum Avrig-See, dem Sieger winkte das Fleckchen für's Zelt mit den wenigsten Huckeln. Wir waren die Ersten. Die Tschechen wollten weiter, die Rumänen bekamen unterwegs Ärger mit einem Hirten, da ihr Hund die Schafe jagte und den Ungarn war vermutlich ihr Kilo Stahl hinderlich.
Bis jetzt spielte mein Knie recht ordentlich mit, was ich zum Großteil meinen beiden Stöcken verdankte. Würde es aber morgen zum Spielverderber, wenn unser Weg über das Kirchendach führte?
 
Die Custura Saratii, das Kirchendach, ist ein scharfkantiger Grat zwischen den Bergen Serbota und Negoi. Im Sommer 1994, während meiner ersten Fagaras-Wanderung, kraxelte ich über dieses Felswirrwarr. Wie lang es damals dauerte, wußte ich nicht mehr, konnte mich aber noch gut daran erinnern, daß ich stark geschwitzt und noch stärker geflucht hatte. Hans-Jürgen mußte gar absteigen, an besagter Stelle. Wir beschlossen also, nicht über das Kirchendach zu balancieren und wählten für das nächste Etappenziel, den Caltun-See, einen Umweg über die Negoi-Hütte.
Hütte ist nicht das richtige Wort, der Bau ähnelte einem Berghotel zu Saisonende. Die 170 Schlafplätze waren frei, Herr Pitaru, der Hüttenwird, sägte Holz für den Winter und mit zwei videokamerabewaffneten Berlinern saßen wir als einzige Gäste im Speisesaal.
Mit Bohnensuppe, Omelett und Bärenbier im Bauch arbeiteten wir uns eine Stunde später in Richtung Caltun-See. Der Weg drückte sich am Fels entlang, ihn markierte ein blaues Dreieck. Stellen die gefährlich aussahen, überbrückten Gitterroste und am Fels baumelten Stahlseile. Ohne diese Vorkehrungen wäre der Weg sicher ungefährlicher. Die Gitterroste waren zum Teil heruntergebrochen und hingen nur noch an einer Verankerung. Zum Glück regnete es nicht. Wie ein Sägeblatt zog sich hoch über uns die Custura Saratii zum Negoi, dem zweithöchsten Gipfel der rumänischen Karpaten. Überall klebten Schneefetzen des letzten Winters.
Der Weg wühlte sich durch Geröllmassen und schien geradewegs in einer Sackgasse aus Fels zu enden. Doch es war keine Sackgasse, ein Spalt kaum breiter als zwei Rucksäcke, teielte die Wand. Strunga Ciobanului, Hirtenkamin, hieß die Stelle auf meiner Karte. Ich ärgerte mich über den Namen. Nie im Leben wäre ein Hirte auf die Idee gekommen, sich da durchzuschinden. Michael kletterte los, Hans-Jürgen folgte ihm, ich bildete das Schlußlicht. Auch hier hingen wieder Ketten, wenn man sie ignorierte klappte der Aufstieg ganz gut. Die Überraschung lauerte beim Abstieg. Ein Brocken, groß wie eine Tischtennisplatte, steckte im Kamin und begrub unter sich die Ketten an einer Stelle, wo sie tatsächlich einen Sinn gemacht hätten.
Verschwitzte Finger preßten sich auf rauhen Fels und zwei Beine ruderten durch die Luft, bis die Schuhspitzen endlich etwas fühlten, worauf sie stehen konnten. Das Schauspiel wiederholte sich dreimal, dann lag der Kamin hinter uns.
 
So wild und zerklüftet ist das Fagaras-Gebirge nur auf seiner Nordseite. Lange, sanft abfallende und dicht bewaldete Hänge ziehen sich dagegen nach Süden. In den Wäldern versteckten sich in den 50er Jahren Partisanen, um gegen das kommunistische System in Rumänien zu kämpfen. Ihre Hoffnung setzten sie auf die Amerikaner, um mit deren Unterstützung Rumänien vom Kommunismus befreien zu können. Soldaten durchstreiften tatsächlich die Wälder, nur waren es keine GI's sondern Angehörige der rumänischen Armee. Anfang der 60er Jahre galt das Partisanenproblem in den Südkarpaten als gelöst.
Als wir nach zehn Stunden auf und ab am Caltun-See kaum noch geradeaus laufen konnten, und mir die Spagetti nicht mehr schmeckten, wußte ich, es war ein Fehler, den Umweg über die Negoi-Hütte zu nehmen.
Die vier Stunden bis zum Capra-See am nächsten Tag waren wie Urlaub. Zwar regnete es am Morgen, doch das beeindruckte niemanden. „Wir machen es wie Kohl“, sagte Hans-Jürgen. „Absitzen und einen günstigen Moment abpassen.“ Dieser ließ nicht lange auf sich warten, bereits nach einer Stunde brannte die Sonne wieder auf der Nasenspitze.
 
Von einem Sattel, der Bâlea-Fenster heißt, sahen wir im Norden die Reste der Bâlea Schutzhütte (abgebrannt Ende August 1995).
Nach Süden windet sich die Transfagarasan, die Fagaras-Hochstraße, in das Tal des Capra-Baches. Wir standen genau über dem Tunnel, der in 2030 m Höhe, durch das Gebirge bricht. Die Straße ist eines der Monumentalbauten des Diktators Ceausescu und wird als solches auch kräftig kritisiert.
1972 begannen Soldaten und Sträflinge mit dem Ausbau des 1944 eingeweihten Transfagaras-Höhenweges zur Fagaras-Hochstraße. Ceausescu sprach zwar von der Errichtung eines Wintersportgebietes im Bâlea-Tal, doch der eigentliche Sinn bestand, falls nötig, in einer raschen militärischen Präsenz in Siebenbürgen, wo ja immerhin mehrere Jahrhunderte Ungarn das Sagen hatten. In zwei Weltkriegen mußten die Regierenden in Bukarest die bittere Erfahrung machen, daß der Kampf um die Karpatentäler höchste Verluste forderte. Verkehrspolitisch notwendig war der Bau nicht (wieviele Straßen sind das schon??). In einer sozialistischen Hau-Ruck-Aktion grub, bohrte und sprengte man die Straße in ein Lawinengebiet ersten Grades. Weder Ingenieure noch Techniker erkannten, oder wollten die Gefahr erkennen, die von diesem Teil des Gebirges ausging. Wie viele Arbeiter und Soldaten beim Bau der Straße Lawinen zum Opfer fielen, wurde nie bekannt - von einem Skigebiet war keine Rede mehr. Den letzten Toten gab es im vergangenen Winter, eine Lawine zerstörte den halbfertigen Neubau der abgebrannten Bâlea-Schutzhütte. Trotzdem gehört die Transfagarasan, zusammen mit der Straße durch die Bicaz-Klamm in den Ostkarpaten, zu den spektakulärsten Straßen in den Karpaten.
Am Gemsen-See, wir sahen wirklich Gemsen, hatten wir etwa die Hälfte des Gebirges geschafft.
„La trei pasi de moarte“ - „Drei Schritte bis zum Tod“ nennt sich ein Felsgrat auf unserem Weg zum Moldoveanu,Rumäniens höchstem Berg. Ganz so schnell geht es aber doch nicht. Die mit Stahlseilen gesicherte Stelle war ein Klacks verglichen mit dem Hirtenkamin am Negoi. „Drei Schritte bis zum Tod“ dürfte für einige Straßenabschnitte in Deutschland passender sein.
 
Mit mehreren Superlativen kennzeichnete mein Wanderführer das Fagaras, als höchstes, felsigstes und wildestes Hochgebirge der rumänischen Karpaten. Ich setzte noch eins drauf und bezeichnete es auch als das Dreckigste. Nirgendwo sonst stolperte ich über so viele Konservendosen, Gaskartuschen, Schuhsohlen und alte Socken wie hier. Kurz vor der Negoi-Hütte hatte sogar jemand seine Hosen liegen lassen. Nicht Hirten und Schafe zerstören die Karpaten, diese gab es bereits als sich Decebal mit Trajan prügelte, schuld sind einzig die Touristen mit ihrer Bequemlichkeit. Unterhalb des Moldoveanus bauten wir zwischen Ciorba de burta Tüten von Maggi, Thüringer-Rotwurst- Dosen zum „Einheitlichen Volkspreis“ von 0,37 Mark und Red Bird Luncheon Loaf, aus Holland, die Zelte auf.
Irgendwie waren wir keine richtigen Helden, da lag der Moldoveanu (warum ein Berg auf der Grenze zwischen Transsilvanien und der Walachei ausgerechnet „Der Moldauer“ genannt wurde?) zum Greifen nahe, und wir ignorierten ihn, wegen ein paar albernen Regentropfen, die sich vermehrten und für die letzten drei Tage im Fagaras zum ständigen Begleiter wurden. Wir begnügten uns mit dem dritthöchsten Gipfel, Vistea Mare (Große Aussicht) genannt und folgten den roten Bändern, die auf den regennassen Steinen erheblich an Ausdrucksstärke verloren hatten.
 
Im Mogosu-Sattel lernten wir Ion kennen. Er ist Hirte aus Corbi, einem Dorf am Südhang des Gebirges, und wollte Zigaretten. Ion gehört zu der Sorte Hirten, wie sie es schon seit der Dakerzeit gab. Er befand sich auf der Transhumanz , der Wanderschäferei. Das Leben der Wanderhirten bestimmten die Schafe. Im Sommer zogen sie mit ihren Tieren durch's Gebirge, im Winter kehrten sie zurück in die Dörfer. Die Hirten legten gewaltige Strecken zurück, manche zogen bis zum Kaukasus. Die Zeiten sind für Ion vorbei. Heute beweiden seine Schafe nur noch die Hänge in der Nähe der Stâna. Zu seiner Familie wird aber auch er erst im Herbst zurückkehren, wenn das Gras trocken ist und die Schafe keine Milch mehr geben.
Nasser grauer Nebel waberte am nächsten Morgen über dem Kamm, mittags regnete es und kurz vor unserem Ziel, dem Zârnei-Sattel, erschlugen uns fast Hagelkörner. Die Notunterkunft im Zârnei-Sattel hat die Form eines Iglus, mit Löchern in den Wänden. Außen auf den Löchern klebten Pin-up-Girls, innen sah es aus wie auf einer Bahnhofstoilette.
Hans-Jürgen mußte absteigen, da sein Schlafsack aus allen Nähten tropfte. Mit zwei Freunden wollte er für eine Woche nach Nordrumänien fahren. In Brasov wollen wir uns wieder treffen, um gemeinsam das Penteleu-Gebirge zu durchstreifen.
Königstein und Bucegi, die letzten Massive der Südkarpaten warteten auf uns.
 
Zum Bucegi-Massiv
 
In der Kneipe von Podu Dâmbovitei, einem Dorf zwischen Königstein und Bucegi, ertränkten wir unseren Trübsinn. Ein Gewitter hatte uns vom Kamm des Königstein gefegt. Damit fehlte mir eines der bedeutendsten Karpatenmassive auf der Tour.
Die Männer am Tresen und an den Tischen hatten andere Probleme, bei Tuika und Bier diskutierten sie, ob Rumänien Mitglied der Nato werden solle oder nicht. Mit jeder Runde wurde die Diskussion temperamentvoller.
„Was meint ihr?“ fragte uns ein Typ am Nachbartisch. Wir versuchten ihm zu erklären, daß Rumänien im Moment sein Geld sinnvoller verschleudern kann, als für Tornados und Leoparden. Die Antwort gefiel dem Mann. Er bestellte noch zwei Bier, und brachte sie zu uns rüber mit den Worten: „Jesus beschütze euch.“
Podu Dâmbovitei blüht, der Grund - seine günstige Lage in den Karpaten weckte das Interesse der Bukarester Mittelschicht, die hier ein Wochenendhäuschen nach dem anderen baut. Trotzdem ist es noch nicht vom Tourismus überlaufen wie z.B. Sinaia oder Busteni jenseits des Bucegi-Massivs, zudem wir am nächsten Morgen aufbrachen.
 
In einem Bachbett, dem das Wasser fehlte, staksten wir bergauf. Nach einer Stunde dann doch Wasser, erst auf Stirn und Rücken, später bis zu den Knöcheln. Der Bach war nicht sehr breit, ich konnte ohne Probleme auf die andere Seite springen. An den Rändern reihten sich morsche, glitschige Bohlen. Über diese haben Holzfäller in der Vergangenheit unzählige Baumstämme zu Tal rutschen lassen. Als wir gegen Mittag aus dem Wald traten, hatte sich etwas verändert - die gelbgrünen Berghänge hatten Farbe bekommen. Gelbe, weiße, blaue und rosa Flecken leuchteten in der Sonne. Sie nannten sich Himmelschlüsselchen, Kuhschelle, Frühlingsenzian oder Bergnelke. Doch all das war nichts, verglichen mit den riesigen Matten blühender Alpenrosen. Ganze Hänge bedeckten die roten Blüten dieser Azaleenart, und am Horizont ragten die Steilwände des Bucegi in die Wolken.
Es gab Tage, da lief es einfach nicht, die Beine waren wie mit Blei gefüllt, der Rücken schmerzte und alle paar Schritte möchte man Pause machen und überlegte sich irgendeinen triftigen Grund, nur damit der andere nicht merkte, daß man schwächelt. Der Gründe gab es zum Glück einige: die Wasserflasche rausholen und einen Schluck trinken, von dem Enzian unbedingt ein Foto schießen, die langen Hosen ausziehen, pinkeln gehen usw. Wenn einem die Karte auch noch eine Seilbahn offeriert, die uns den Aufstieg ersparen kann, ist das wie Geburtstag. Wie ein Schlag ins Gesicht ist es dagegen, wenn besagte Seilbahn nicht fährt, und das tat die Seilbahn aus dem Ialomita Tal rauf zur Babele-Hütte schon seit Jahren nicht mehr, wie mir schien. Die Seile hatten Rost angesetzt, die Tür der Station war verrammelt, und aus dem Mauerwerk sproß Unkraut. Solche Schläge steckte ich dann weg, wurde bockig, streckte den Mittelfinger hoch und lief weiter. Am späten Nachmittag saßen wir als Sieger in der Babele-Hütte, der Preis ein halber Liter.
 
Das überdimensionale Hufeisen Bucegi tanzt gleich mehrmals aus der Karpatenreihe. Der westliche Teil besteht aus Kalkstein, der östliche aus Konglomeraten. Die Folge davon ist: uneinige Wissenschaftler! Für die Geologen zählt es zu den Ost-, für die Geographen zu den Südkarpaten. Der östliche Schenkel bildet ein Hochplateau, aus dem im Norden der Omu, mit 2505 m höchster Berg des Massivs, herausragt. Die Cabana Omu auf dem Gipfel ist somit die höchstgelegene Berghütte in den Karpaten. Die östlichen Berge (z.B. Costila, Caraiman) des Bucegi-Hauptkammes bilden die größten Steilabbrüche in den Karpaten. 400 Meter mißt die Valea-Alba-Wand, die höchste Wand der rumänischen Karpaten, an der Südseite des 2498 m hohen Costila Gipfels.
Und wer glaubt, die Sphinx gibt es nur in Gise, irrt. In Rumänien gibt es sie gleich zweimal: auf dem Bucegi-Plateau, etwa 200 m nördlich der Babele-Hütte, das Original und die Kopie auf der Rückseite einer 50 000 Lei Banknote, im Volksmund Bojarengeld genannt, da es meistens in den Geldbörsen Wohlhabender steckt. In Deutschland geht auch nicht Otto-Normalverbraucher mit 1000 DM Scheinen zum Wochenendeinkauf.
Wind und Sandkörner bearbeiteten den Konglomeratbrocken in tausenden Jahren zu seiner heutigen Form, wie auch die Babele-Felsen neben der gleichnamigen Berghütte. Alte Weiber bedeutet Babele, und die vier Gestalten erinnern mit etwas Phantasie in der Tat an eine Gruppe tratschender Mütterchen.
Das Heldenkreuz unterhalb des Caraiman-Gipfels erinnert an etwas anderes. Als Helden galten im Winter 1916 die Soldaten der königlichen Armee Rumäniens, die bei der Verteidigung des Prahova-Tals ihr Leben ließen.
Ein Pfad der im Winter gesperrt ist, windet sich über den Abbrüchen zum Heldenkreuz. Am Wegrand erinnern kleinere Kreuze an andere Helden. Sie wurden zum Gedenken an Mitglieder des Salvamont errichtet, die bei Rettungsaktionen selbst tödlich verunglückten.
Rote Punkte schaukelten zwischen den Felswänden und verschwanden in den Wolken unter uns, die Seilbahn ins Prahova-Tal war in Betrieb. Mit der nächsten Kabine schaukelten wir mit nach unten, tauchten in die Wolken und wurden in Busteni ausgespuckt - die Südkarpaten lagen hinter mir.
 
Die Ostkarpaten - südlicher Teil
 
Masivul Ciucas - Der Krähenstein
 
Mit den Südkarpaten lag auch die alpine Landschaft hinter uns, der Vârful Ciucas versuchte sich zwar noch einmal mit aller Macht zu strecken, brachte es letztlich doch nur auf 1954 Meter. Erst in Nordrumänien, im Calimani - und Rodna-Gebirge lagen die Berge noch mal jenseits der 2000-Meter-Marke.
Hinter dem Wintersportort Predeal tauchten wir in die bewaldeten Hänge des Gârbova Gebirges. Ablaufendes Regenwasser hatte tiefe Rinnen in den Weg gewaschen, Dreckklumpen klebten an den Schuhen. Wir bewegten uns wie auf Schmierseife. Zweige knackten, Ketten klirrten und laute Rufe ertönten. Aus dem Wald trat ein Mann mit einem Gespann. Zwei Ochsen zogen ein paar Baumstämme durch das Gestrüpp. Zwei Meter liefen sie, blieben stehen, ein Hieb mit der Rute folgte und wieder bewegte sich der Pulk zwei Meter weiter. „Greu - Schwierig!“ rief uns der Typ zu.
Nach der Revolution bekamen ehemalige Waldbesitzer ihren Forst zurück. Um den Wald vor dem Kahlschlag zu schützen, erließ die Regierung ein Gesetz, wonach es einer Genehmigung bedurfte, wenn jemand Holz verkaufen wollte. Doch wenn es galt Gesetze zu umgehen, wußte man sich schon immer zu helfen. Die frischgebackenen Waldbesitzer griffen zu Axt und Säge, fällten die Bäume und zimmerten Särge daraus, diese zu verkaufen war ja nicht verboten. Die Särge konnten von den Empfängern wieder in Bretter zerlegt werden. Es gab nur ein Problem: Die Bretter mußten eine Mindestlänge besitzen. Die Folge war: Den Behörden wollte es partout nicht in den Kopf gehen, wer seine letzte Ruhestätte in einem Sarg einnehmen sollte, der zweieinhalbmeter lang war.
Das Knarren und Poltern des Ochsengespanns hatte sich hinter uns verloren, vor uns endete der Weg auf einer Bergwiese mit Kühen, Bänken und Picknicktischen. In der Susai-Hütte bot sich uns die letzte Möglichkeit für ein Bier und da sowieso Mittag war holten wir auch Müsliriegel, Brot und Speck aus dem Rucksack. Die Rindviecher fühlten sich vor der Hütte wie zu Hause, vielleicht waren sie das auch. Eine Kuh trabte an unseren Tisch und im Handumdrehen hatte sie meinen Speck samt Papier verschlungen und langte bereits nach dem letzten Stück Brot. Erst ein ordentlicher Schlag auf den Schädel, brachte die Kuh davon ab, sich auch noch an Bier und Müsliriegeln zu vergreifen.
 
Mit den Südkarpaten hatten wir noch etwas zurückgelassen: Wegmarkierungen auf die wir uns verlassen konnten. Hier tauchten sie auf, verschwanden wieder, um nach etlichen Metern erneut aufzutauchen. Wer auch immer mit Pinsel und Farbeimer durch die Karpaten rannte, um gelbe Bänder, blaue Dreiecke oder rote Punkte an Bäume und Steine zu malen, hier im südlichen Teil der Ostkarpaten hatte er entweder keine Lust gehabt oder ihm ging laufend die Farbe aus. Wir rutschten einen Hang hinunter auf einen staubigen Waldweg und wußten nicht mehr wo wir waren. Im Allgemeinen führen Wege irgendwo hin: in ein Dorf, auf eine Straße oder wenigstens zu einer Hirtenhütte. Dieser hier tat das nicht. Er endete mitten im Wald an einer Pfütze neben der ein Stapel Baumstämme in der Sonne döste. Eine matschige Rinne, auf der die Stämme heruntergelassen wurden, verschwand im Dunkel des Blätterdaches. Wir folgten dem Gemisch aus Schlamm, verrotteter Blätter und Baumrinde. Periodisch wiederkehrende Regenschauer ließen uns unter Bäume flüchten und die Regenklamotten anziehen. Kaum hatte ich die Kapuze über die Ohren gestülpt schien wieder die Sonne - ich kam mir verarscht vor.
 
Oben im Kamm holte ich meine Karte raus, wir mußten zu einem Paß der Predelus hieß. Er trennte das Gârbova- vom Grohotis-Gebirge. Grohotis heißt Geröll, etwas was es in diesem Massiv nicht gab. Bis zum Horizont zogen sich Grasbuckel, der Krähenstein dahinter sah aus, wie eine Burg aus dem Märchenbuch.
Männer mähten einen Grashang, wie es aussah, wird es länger dauern. Auf einem gemähten Stück Wiese stand ein Zelt, aus Holzstangen und Plastikplanen errichtet, und über einem Feuerchen brodelte das Mittagessen. Die Leute bleiben hier draußen bis das Gras gehauen war, dann erst würde es mit vollgeladenen Pferdekarren zurück ins Dorf gehen. „Noch drei Stunden bis Cabana Muntele Rosu“, rief mir ein Typ mit rostrotem Vollbart zu, als ich mich nach dem Weg zum Krähenstein erkundigte. Nach drei Stunden hockten wir auf einer Lichtung neben einem Forststraße mitten im Wald. Von einer Hütte weit und breit keine Spur, dafür holperte ein gelber Lieferwagen durch die Schlaglöcher und hielt ein paar Schritte neben meinem Kochtopf. Zwei Typen stiegen aus, der ältere ähnelte einem Hirten, der jüngere nuckelte an einer Weinflasche und nannte sich Stephan. Das pinkschwarze T-Shirt, sein Silberkettchen und die Ohrringe gaben ihm etwas Schwuchtelhaftes. Ich mochte ihn nicht. Nicht weil er schwul war, er war besoffen und lästig wie eine Scheißhausfliege.
„Ihr wollt wirklich über die Berge?“ fragte Stephan und hielt mir die Weinflasche unter die Nase.
„Das ist gefährlich, gibt jedes Jahr Tote. Ihr könntet die Felsen runterfallen.“
Ich versuchte ihm zu erklären, daß wir nicht zum ersten Mal auf Tour waren - ohne Erfolg.
 
„Also in 'ner Woche fahre ich ans Schwarze Meer, ihr könnt mitkommen.“ Er schien von seiner Idee begeistert zu sein. Eine volle Stunde versuchte uns Stephan davon zu überzeugen, daß es mit ihm am Schwarzen Meer doch viel schöner war, als in den Karpaten. Plötzlich klapperte es auf der anderen Straßenseite. Hirten kamen aus dem Wald geritten. Sie brachten frischen Schafskäse, den Stephan nach Brasov bringen mußte. Der Käse wurde verladen, einer der Hirten stieg mit in den LKW, der Motor heulte auf und das Auto mit Stephan verschwand in der einsetzenden Dämmerung. Der Alte, er war tatsächlich Hirte, ritt mit dem Rest zurück in die Berge. Wir hatten endlich Ruhe.
 
Am nächsten Morgen folgten wir der Forststraße nach Osten, sie mündete auf die Nationalstraße 1A in der Nähe eines Restaurants mit dem Namen Babarunca. Wir waren früh dran, drinnen langweilte sich das Personal, draußen, am Straßenrand, eine Nutte.
Der Weg zum Ciucas begann auf der anderen Straßenseite und war mit roten Dreiecken markiert, die irgendwann von blauen Dreiecken abgelöst wurden. Laut meiner Karte hätten es rote Kreuze sein müssen. Solch kleine Unstimmigkeiten gewöhnt, setzten wir unseren Weg unbeirrt fort und standen gegen Mittag im Tigailor-Sattel unter bizarren Konglomeratblöcken, die denen im Bucegi ähnelten. Über dem Ciucas-Gipfel versammelten sich bleigraue Wolken, die sich auch bald ihrer Last entledigten. Klitschnaß bis auf die Knochen zwängten wir uns durch die Tür der Cabana Ciucas. Die Hütte glich einem Bauernhof, hinter dem Gebäude wühlten Schweine im Boden, am Treppengeländer wetzte sich die Hauskatze ihre Krallen und der Hofhund balgte sich mit den Hirtenhunden der benachbarten Sennstation. Der Wirt schleppte eben einen Eimer voll frisch gemolkener Milch aus dem Stall in die Küche. Die Wirtin machte uns Gemüsesuppe, anschließend gab es Mamaliga mit Schafskäse und zum Nachtisch Bier, das zu der Gegend paßte, es hieß Ciucas. Regengüsse, die die Fensterscheiben herunterliefen, verzerrten die Sicht nach draußen. Schäfer trieben ihre Herde in einen Pferch zum Melken. Nach über zwei Monaten in den Karpaten, wurde ich meinem Zelt zum ersten Mal untreu, wir schliefen in der Hütte.
 
Ein klarer, kalter Julimorgen begrüßte mich auf dem Weg zum Klo. Im Gegenlicht der aufsteigenden Sonne sah die Landschaft unter mir aus wie ein Meer, die waldbedeckten Gebirgszüge bildeten blaue Wellen, mit zunehmender Entfernung heller werdend. Der milchige Spritzer am Horizont hieß Penteleu, dort wollten wir hin. Doch erstmal stiegen wir ab, um in Brasov Hans-Jürgen abzuholen.
 
Brasov
 
Brasov oder auf deutsch Kronstadt liegt den Karpaten zu Füßen. Direkt hinter der Altstadt erheben sich die Hänge des Tâmpa-Berges und von dort sind es etwa 3 - 4 Tage bis ins Bucegi-Massiv. Ich mochte die Stadt, auch aus einem anderen Grund; jedesmal wenn ich auf dem Hauptbahnhof aus dem Zugabteil stolperte, umringten mich zwei Sorten von Menschen - Taxifahrer und Zimmervermieter. Erstere wies ich meist höflich ab, mit den Zimmervermietern wurde ich jedoch rasch handelseinig.
Diesmal aber schien uns das Pech im Nacken zu sitzen. Weder auf dem Bahnhof stellte man uns die obligatorische Frage: „Unde dormiti?“ - „Wo schlafen Sie?“, noch auf dem Piata Sfatului im Zentrum hatte jemand Lust uns ein Quartier für eine Nacht zu vermieten. Nach zweimaligem, erfolglosem Prominieren auf Brasov's Einkaufsboulevard der Strada Republicii gaben wir auf. Vielleicht sahen wir nach mehreren Karpatenwochen nicht mehr wie ausländische Touristen aus?
Wir erinnerten uns einer Billigherberge, die uns Hans-Jürgen empfohlen hatte - Hanul Codreanu - etwa 15 Minuten zu Fuß vom Hauptbahnhof gelegen.
Die Fassade des Gebäudes war bunt wie der Rock einer Zigeunerin. Der Junge an der Rezeption sah ziemlich schwer aus, das Mädchen, das uns die Zimmertür aufschloß umso leichter.
 
Wir bezogen einen Raum in der obersten Etage. Auf den ersten Blick sah es recht nobel aus. Die Wände waren mit Holz verkleidet, das Bad gefließt und die Betten tip top gerichtet. Doch ich fand etwas zum Mäkeln. Die Tür ließ sich nicht verschließen, das Waschbecken im Vorraum war eine Atrappe, ihm fehlte der Abfluß. Dafür lief das Wasser der Klospülung ständig, nur nicht dann, wenn ich an der Strippe zog, und an den Holzwänden stand, wer sich wann mit wem geliebt hatte.
Immerhin konnten auch wir glücklich und zufrieden sein, doch noch eine Bleibe für die Nacht gefunden zu haben. Was ich jedoch, im Gegensatz zu Micha, nicht konnte war schlafen. Schreie weckten mich, sie kamen aus dem Nachbarzimmer. Je nach Gefühlszustand der Dame kurz und spitz oder tief und kraftvoll. Unterbrochen wurden sie nur durch Regieanweisungen an ihren Partner. Wortfetzen drangen an mein Ohr: „acum - jetzt“, „asa - so“ oder „ma doare - es tut mir weh“ (Trottel). So hatten meine Nachbarn jede Menge Spaß, ich keinen Schlaf, dafür eine Sonderlektion rumänisch. Als die beiden endlich befriedigt waren und wieder Ruhe eintrat, fielen auch mir die Augen zu, um sie wenig später wieder aufzuschlagen. Diesmal waren es andere Geräusche. Es regnete, das registrierte ich, da das Fenster einen Spalt offen stand, doch das war es nicht. Tok, tok, tok machte es neben mir. Ich tastete mit den Händen in die Richtung aus der das Geräusch kam. Pitsch , ich fühlte etwas Nasses auf meiner Hand, und wieder pitsch. Von der Decke fiel ein Tropfen nach dem anderen neben mein Bett, es hatte sich bereits eine kleine Pfütze gebildet. Ich weckte Micha, zu schlafen hatte sowieso keinen Sinn mehr. Wir stellten unsere Trinkflaschen unter die Stelle, schlüpften in unsere Klamotten, holten die Pässe an der Rezeption und wankten zum Bahnhof, um auf Hans-Jürgen zu warten. Dieser hockte bereits mit seinen Freunden Uwe und Ulrich in der Vorhalle.
 
Das Penteleu-Massiv
 
Vier Männer, fünf Frauen und ein Schwein, das in einem Kartoffelsack steckte, setzten uns in Siriu, einem Dorf im Südwesten des Buzau-Gebirges, ab.
Vârful Penteleu ist mit 1772 Metern der höchste Hügel im Buzau-Gebirge, welches drei Massive bildet: das Siriu-Gebirge im Westen, anschließend das Podul Calului-Massiv und im Osten das Penteleu-Gebirge, zu dem eine staubige, langweilige Forststraße führte. Das ganze Massiv schien nur aus Wald und Forststraßen zu bestehen. Es ist Rumäniens Holzlieferant Nummer eins. Demzufolge herrschte auf den Schotterstraßen ein reges Treiben. Holzlaster donnerten über die Piste, wippende Baumstämme im Gepäck. Tanne und Rotbuche werden am häufigsten geschlagen. Die meisten Stämme bleiben jedoch im Land. Niedrige Holzpreise auf dem Europäischen Markt und hohe Kosten beim Holzschlag, machen der Forstwirtschaft Rumäniens das Leben schwer. 80 Mark bekommt Rumäniens Holzmonopol Romsilva für einen Kubikmeter Holz innerhalb des Landes. Wird die gleiche Menge exportiert, sind die Einnahmen gerade mal halb so hoch. Sogenannte Erntemaschinen zum Fällen der Bäume, wie im Flachland üblich, können in den Bergen nicht eingesetzt werden, hier diktiert die Handsäge das Arbeitstempo. Ebenso mühsam ist der Transport der Stämme. Traktorenreifen wühlen sich neben Pferdehufen in den Waldboden. Eine neue Forststraße anzulegen kostet genausoviel wie der spätere Erlöß aus dem Holzverkauf in diesem Gebiet.
 
Der nächste LKW, der um die Ecke preschte, hatte nichts geladen. Hans-Jürgen streckte den Daumen hoch, Bremsen quietschten und aus dem Fahrerhaus schaute ein sonnenblumenkernekauendes Mondgesicht, das nach Covasna wollte, einer Stadt nordwestlich des Gebirges. Wir bekamen ebenfalls Sonnenblumenkerne, sprangen auf die Ladefläche und übten uns im Kerne knabbern. Die Dinger hatten hier die gleiche Bedetung wie bei uns Marsriegel, man hatte irgendwas im Mund ohne etwas in den Bauch zu bekommen. In den Dörfern und Städten verkauften Frauen und Kinder die Kerne an jeder Ecke säckeweise. Die Rumänen knackten mit den Zähnen die Schale, popelten irgendwie den Kern heraus und spuckten zuletzt die Schale aus. Eine Kunst, die ich nie begreifen werde. Entweder zermalmten meine Zähne alles, oder ich verknotete fast meine Zunge, beim Versuch den Kern zu erwischen. Der Fahrer kam aus Ploiesti und kannte sich in den Bergen genausowenig aus wie wir. Obwohl er sich anhand meiner Karte orientierte, verfuhren wir uns nur zweimal (wir verliefen uns später ständig) und wurden im Bisca Mare-Tal neben einer Brücke abgesetzt. Wir liefen im Tal nach Süden, gefolgt von unseren Schatten, die inzwischen auf ihr Minimum geschrumpft waren. An einem Forsthaus, das Tisa hieß, hätte laut Karte ein Pfad nach Osten führen müssen, tat es aber nicht. Wir hockten uns unter ein paar Tannen, knabberten einen Riegel und nahmen den nächsten Weg, der sich rechts in den Wald schlug. Aus dem Weg wurde irgendwann ein Pfad, aus dem Pfad wurde irgendwann überhaupt nichts. Halbwüchsige Fichten fuchtelten uns im Gesicht herum, Nadeln stachen ins Genick, Brombeerranken umklammerten die Beine, wir mußten zurück und krochen den Hang hinauf. Rote Punkte leuchteten zwischen den Wanderschuhen. Die Erdbeeren machten zwar nicht satt, ich brachte es aber trotzdem nicht übers Herz, einfach dran vorbeizulaufen. Der Penteleu war weit und breit der höchste Punkt im Gelände, solange es bergauf ging war alles in Ordnung. Nach einer Stunde lichtete sich der Wald und zwischen den Bäumen blinkte ein Haus in der Abendsonne, die Wetterstation unterhalb des Penteleu-Gipfels.
 
Auf dem Gipfel entdeckte ich am nächsten Morgen etwas, das ich schon seit Tagen vermißte: auf einem Stein leuchtete ein rotes Band. Ein Pfad, kaum breiter als meine Schuhsohle, verschwand in nordöstlicher Richtung unter Heidelbeerbüschen. Mit ihm verschwand auch die Wegmarkierung. „Wie in Sibirien“, stellte Hans-Jürgen fest. „Dort waren die Wege auch zugewachsen, nur an die Bäume genagelte Drähte dienten als Wegweiser.“ Hier hatte es nicht mal Drähte, nur mannshohes, triefendes Tannendickicht, das einen naß machte wie bei einer Woche Dauerregen. Es hatte keinen Sinn, weiter zu laufen, wir stolperten nach unten auf ein Stück Wiese. Ärgerlich schaute ich auf meine Karte: der Berg, der uns zum Rückzug zwang, hieß Porcul - das Schwein. Hans Jürgen suchte nach einem Weg und fand tatsächlich einen. Fuß- und Schaf-spuren zeichneten sich deutlich am Boden ab. Wir passierten eine Hirtenstation, die es nach meiner Karte nicht geben durfte, kurz danach teilte sich der Pfad. Wir wählten links und fühlten uns bald darauf verarscht. Eine Weile latschten wir noch parallel zum Kamm, dann machte der Pfad einen Schwenk und entließ uns auf eine Forststraße. Keiner hatte mehr Lust, ein drittes Mal umzukehren, und so bauten wir neben einem Bach, der sich Bâsculita nannte, die Zelte auf. Über mehrere kleine Staustufen sprudelte uns das Wasser entgegen, ein Zeichen, daß hier Forellen lebten. Es war eine einfache Methode das Wasser mit Sauerstoff anzureichern, ich begegnete ihr oft in den Karpaten.
 
Es regnete, als ich am Morgen aus dem Zelt kroch, um zu pinkeln.
Fünf Paar Wanderschuhe quatschten etwas später durch einen schmierigen, braunen Kleister, krochen unter mannsdicken Baumstämmen durch, verloren ab und zu den Halt - was der Träger jedesmal mit „Scheiße“ quittierte - und standen endlich klitschnaß und besudelt vor einer Hirtenstation. „Tamasoiul“, sagte ein Opa, als ich mich nach dem Namen der Stâna erkundigte. Die gab es sogar auf meiner Karte, endlich wieder ein Punkt, an den wir uns klammern konnten. Der nächste Punkt war ein Forsthaus, Gheorghita hieß es. Ich fragte nach dem Weg dorthin, der Mann verstand mich nicht. Ich mußte einen markanteren Punkt finden. Die Holzfällersiedlung Comandau kannte er und zeigte in eine Richtung. Wir folgten dem Fingerzeig und standen nach drei Stunden wieder bei dem Opa. Ich war kurz davor durchzudrehen. „Wenn wir noch einmal im Kreis laufen, gehe ich zurück nach Siriu und streiche das Penteleu-Gebirge aus meinem Bewustsein“, schwor ich mir.
Wir verliefen uns nicht mehr. Dafür versenkte ich im Obârsia-Bach meinen Rucksack. Zum Glück war nichts passiert, die Benzinflasche hatte ab jetzt eine Beule und das Klopapier war genauso naß wie meine Socken.
 
Eine Schotterstraße führte nach Comandau, auf ihr herrschte ebensoviel Verkehr wie bei unserem Einstieg in Siriu. Staub knirschte noch zwischen den Zähnen, als wir in der Nähe des Dorfladens abgesetzt wurden - unser Blindfug hatte ein Ende. Der Ort erhielt seinen Namen aufgrund einer österreichischen Grenzkommandostelle. Eine Grenze bestand in dieser Region bereits seit dem Mittelalter, als der ungarische König die Szekler hier ansiedelte, damit sie das Königreich vor Eindringlingen aus dem Osten schützten. Die Nachfahren jener Szekler leben heute als eine von vielen Minderheiten in Rumänien. Auch in Comandau sprechen die Leute ungarisch. Sie leben von der Landwirtschaft und der Holzindustrie, mehrere Sägemühlen zerkleinern die angelieferten Stämme. Aufgrund des starken Verkehrs - alle fünf Minuten donnerte ein Holztransporter durch den Ort - steckte der Hauptweg unter einer knöcheltiefen Schlammschicht. Die Waldeisenbahnen, die in der Vergangenheit den Holztransport übernahmen, sind heute bis auf wenige Ausnahmen stillgelegt. Von den Bahndämmen hat der Wald inzwischen wieder Besitz ergriffen.
Covasna lag 12 km nördlich und etwa 450 m unterhalb von Comandau. Wir erreichten den Luftkurort im Tal der Feen - Valea Zânelor, durchgeschüttelt wie Mixgetränke und gepudert wie Weihnachtsstollen auf der Ladefläche eines LKWs. Die Berge über dem Tal erinnerten mich an die Westküste Kanadas. Dort nannten die Holzfäller das rigorose Abholzen ganzer Berghänge clear cutting.
Hans-Jürgen, Uwe und Ulrich wollten die letzte Waldeisenbahn Transsilvaniens suchen, Michael und ich wollten weiter. Die nächsten vier Tage würden wir im Ciomatu- und Bodoc-Gebirge den vulkanischen Charakter der Karpaten kennenlernen.
 
Das Ciomatu- und Bodoc-Gebirge
 
Wir nahmen den Bus zum Bahnhof, Tickets verkaufte die Schaffnerin. Es war witzig, hier gab es selbst in Bussen Leute, die die Fahrkarten kontrollierten. Noch witziger aber war, daß unsere Tickets, die ich beim Einsteigen gekauft hatte, nachher, bei der Kontrolle ungültig waren. Erst eine Diskussion und der Nummernvergleich überzeugte die Dame, daß die Fahrscheine gültig waren: wir durften weiterfahren.
 
Nördlich von Sfântu Gheorghe erheben sich die Hügel, die sich später Muntii Bodoc nennen. Sie mußten noch eine Weile warten, unser erstes Ziel hieß Lacul Sfânta Ana. Der St. Annen-See liegt im südöstlichsten Zipfel des Harghita-Gebirges, das hier Ciomatu-Gebirge heißt, und ist der einzige Kratersee der Karpaten. Wir waren nicht die einzigen Rucksacktouristen, die in Bixad, einem Dorf am Fuße des Ciomatu-Gebirges, aus dem Zug sprangen und sich in Richtung Berge vorarbeiteten. Mehr als ein Dutzend Jugendlicher hatte den gleichen Weg. Das war ungewöhnlich. Zum einen, weil uns in letzter Zeit entweder Waldarbeiter oder Hirten begegneten, nur keine Wanderer, zum anderen sahen die Typen nicht wie Wanderer aus. Ich konnte mir zumindest nicht vorstellen, wozu Ghettobluster in den Bergen nützlich sein sollten. Dagegen war ich von den Wegweisern beeindruckt: hatte es im Penteleu überhaupt keine, waren sie hier gleich dreisprachig. Auf rumänisch, ungarisch und deutsch sagte uns ein Schild mit blauem Kreuz, daß es noch 700 Meter bis zum See waren. Der See hat weder Zu- noch Abfluß sein Waser ist gespeichertes Regenwasser, in dem jetzt gebadet wurde. Michael trieb es auch ins Wasser. Ich hatte keine Badehose, brauchte auch keine, da ich immer nackt baden ging. Doch hier konnte ich das nicht, erstens badeten alle in Textil und zweitens war der See der heiligen Anna geweiht. Ich konnte keine Schwierigkeiten gebrauchen, hockte mich ans Ufer und kaute Datteln. Aus einem roten Pickup wurden gerade Bierkisten für den Strandkiosk entladen, der einem Bushäuschen ähnelte.
 
Auf dem Weg nach Baile Tusnad, wo wir Geld wechseln und Essen kaufen mußten, sprudelten kohlensäurehaltige Mineralquellen aus dem Fels, das Wasser schmeckte wie Clausthaler. Trotz des Kratersees und der Brausequellen wollte bei mir irgendwie kein richtiges Vulkangefühl aufkommen. Unter vulkanischem Charakter stellte ich mir etwas vor wie Schwefeldämpfe, Geysire, Lava, kurzum heiß mußte es sein. Hier dagegen war es naß, der Aufstieg von Baile Tusnad am nächsten Tag war mit Abstand der feuchteste der ganzen Tour. Bis zu den Knöcheln im Dreck, staksten wir ein schmutzig braunes Etwas hinauf, das gestern noch ein Weg war. Lehmgelbe Bäche stürzten uns entgegen, das T-Shirt klebte am Körper und kleine, boßhafte Rinnsale bahnten sich einen Weg über Bauch und Rücken in die Hose, um an den Beinen hinab in die Schuhe zu laufen. Das alles hatten wir nur unserer Faulheit zu verdanken. Als die ersten Tropfen fielen, beachteten wir sie nicht, bis es zu spät war. War man dann mal naß bis auf die Haut, machte es auch keinen Sinn mehr, die Regenklamotten anzuziehen. Nach knapp drei Stunden traten wir aus dem Wald auf eine Wiese, größer als ein Fußballfeld. Zelt an Zelt quetschte sich bis zum anderen Ende, das eine Straße begrenzte. Wir bahnten uns einen Weg über leere Bierflaschen. Zwischen Plastikbechern und aufgeweichten Papptellern standen Würstchenbuden und Krimskramsverkäufer. Aus den Zelten dröhnte Musik, Polizisten regelten den Verkehr auf der Straße. Am Waldrand hockten ein paar Gestalten unter Plastiktüten und kifften. Hierhin wollten also die Typen aus dem Zug. Wir hatten keine Ahnung was hier abging.
 
Die Straße der wir folgten, führte nach Turia, so stand es zumindest auf den Kilometersteinen. Vor dem Hotel Carpati in Turia sprudelten wieder Brausequellen aus dem Berg. Wir konnten wählen zwischen Kohlendioxid und Eisen, oder ohne Eisen, dafür mit Bor und Aluminium. Wir wählten Eisen. Die Berge hinter dem Hotel gehörten schon zum Bodoc-Gebirge. Wir krochen einen Hang hinauf, irgend etwas roch faul. Der Gestank entwich einer Grotte, es war Schwefelwasserstoff. Die Wände der Grotte waren gelb vom abgelagerten Schwefel. Nach einigen Metern versperrte ein Gitter den Weg ins Innere. Das Gitter war unnötig, stellte ich fest. Aus dem Loch strömten Dämpfe, die einem die Kopfhaut wegätzten, würde man weiter gehen. Auf einer Tafel am Fels stand, daß hier Schwefel abgebaut wurde. Auch der Name der Höhle ließ daran keinen Zweifel, Pestera Puciosul hieß „die Schwefelhöhle“, oder auf ungarisch: Büdösbarlang - Stinkhöle. Ich glaubte nun doch an den vulkanischen Ursprung des Gebietes.
Noch etwas faszinierte mich am Bodoc: links und rechts des Pfades leuchteten Pfifferlinge, Birken- und Steinpilze, sowie Rotkappen zwischen braunen Blättern, Tannennadeln und Grasbüscheln hervor. Wir brauchten uns nur zu bücken, um die Pilze einzusammeln. Nach einer Stunde hatten wir genug und brauchten drei Abende lang keine Nudeln mehr zu kochen.
Gegen Mittag des nächsten Tages erreichten wir den Casinul-Nou-Paß, hier endete das Bodoc-Gebirge und das Ciuc-Gebirge begann. Der Paß war nichts Besonderes, eine Schotterstraße zwischen zwei bewaldeten Hängen mit einem Monument, das an die Gefallenen ungarischen Revolutionäre von 1849 erinnerte. Sie kämpften in diesem Gebiet gegen die zaristische Armee Russlands. Mich erinnerte der Paß an etwas anderes, die Hälfte der Tour lag nun hinter mir.
 
Das Ciuc-Gebirge
 
Die nächsten Kilometer ging es über Wiesen. Etwas Orangenes am Horizont, das wie ein Zelt aussah, erregte unsere Aufmerksamkeit. Beim Näherkommen entpuppte sich das Zelt als Auto unter einer Plane, aus dessen Radio Volksmusik dudelte . Es gehörte zu vier Männern, die hier oben Heu machten. Im Moment machten sie erst mal Mittag. In einem rußgeschwärzten Kessel brodelte das Essen. Auf dem selbstgezimmerten Tisch standen Teller, neben den Tellern Schnapsgläser. Es gab Lammfleisch mit Kartoffeln und Pilzen, zum Dessert Tuika. Ich fragte nach dem Weg. Unser Tagesziel hieß Uz-Paß, dort querte laut Karte wieder eine Forststraße das Gebirge. Mit dem Paß konnte keiner der Vier etwas anfangen. Ich holte meine Karte raus und zeigte auf die Stelle. Köpfe beugten sich über das Blatt. Die Karte wanderte von einem zum anderen und eine heiße Diskussion entbrannte. Da die vier ungarisch redeten, verstanden wir kein Wort. Ein Typ mit Strohut auf dem Kopf, der etwas deutsch sprach - „War schon in Deutschland. Mit einem Tiertransport bis München und Hamburg.“ - studierte noch mal die Karte. „20 Kilometer“, stellte er überzeugt fest. Das konnte nicht sein! „Besser ihr geht zurück bis zur Straße und fahrt per Anhalter, sind bloß 2 km mehr.“ Ich erklärte ihm, daß wir durch das Ciuc wandern wollten - große Augen, Unverständnis. „Drei Wochen braucht ihr schon“, war schließlich die Antwort. Wir hatten drei, höchstens vier Tage geplant. Daß ich durch die ganzen Karpaten laufen wollte, erzählte ich nicht mehr. Auf die Frage, wie ich es mir leisten konnte, drei Jahre nicht zu arbeiten, hätte ich keine Antwort gewußt. Es folgte wieder eine kurze Konversation. Ein etwas korpulenter Herr verschwand hinterm Auto und kam zurück, zwei sagenhafte Knüppel in den Händen. „Wegen der Hunde“, meinte der LKW-Fahrer „Da hinter - er zeigte auf den nächsten Hügel - ist 'ne Hirtenstation - große Hunde.“ Ich war baff. Sie meinten es gut, aber was sollten wir mit diesen Steineichen anfangen? Wir wollten die Hunde doch nicht pfählen. Außerdem hatten wir unsere Teleskopstöcke und bis jetzt noch nie ernstere Probleme gehabt.
 
Wenn wir schon ohne Knüppel weiter wollten, ohne etwas gegessen zu haben ließen sie uns nicht weg. Wir hockten uns mit an den Tisch. Fett tropfte vom Kinn, Tuika rann die Kehle runter. Im Radio kamen Nachrichten, irgendwas von einem Bürgermeister aus Cluj. Die vier fingen plötzlich an zu schimpfen und fluchten. „Rumänen - Katastrophe“, sagte der Typ mit dem Strohhut. „Hier Magyaren - keine Probleme. Aber im Norden wieder Rumänen, wieder Katastrophe.“ Bis jetzt hatten wir die angebliche Katastrophe recht gut überlebt.
Wir überlebten auch die Hunde, sie parierten auf's Wort. Wenn nicht, hätten uns die Knüppel auch nicht viel geholfen, es waren etwa 20 Stück. Was mir viel mehr Kopfzerbrechen bereitete: der Hirte kannte auch keinen Uz-Paß. Vermutlich kannten die Leute nur den ungarischen Namen, den aber kannten wir damals nicht. Meine Karte war in rumänisch geschrieben. Zu Hause erfuhr ich den anderen Namen: Rugat-Paß.
Wir erreichten ihn am anderen Morgen um halb zehn. Auf den Wiesen herrschte jetzt emsiges Treiben. Jeder hatte etwas zu tun, die Frauen luden Heuballen auf Pferdekarren, die Männer machten Pause.
Ab jetzt orientierten wir uns nur noch nach Kompaßnadel und Forstwegen. Führte ein Weg nicht nach Norden, wurde halt querfeldeingelaufen. Das klappte ganz gut, bis wir am Nachmittag wieder mal im Unterholz festsaßen. Ein Slalomlauf zwischen Kuhfladen brachte uns zu einem Dorf, das ringsherum eingezäunt war. Eine Stunde dauerte es, bis wir eine Lücke fanden, um auf den Hauptweg zu gelangen.
„Eghersec“, antwortete ein Waldarbeiter der am Wegrand auf einem Holzhaufen saß, als ich ihn fragte, wo wir sind.
 
In den Tälern des Ciuc-Gebirge siedelten szekler Bauern bereits ab dem 11. Jahrhundert. Die Dörfer ziehen sich oft etliche Kilometer am Ufer der Bäche entlang bis in die höheren Bergregionen. Für uns hatte das den Vorteil, daß wir nicht soviel Lebensmittel zu schleppen brauchten. Etwas Brot und Käse, ein paar Tomaten und Paprika würden wir schon bekommen. Womit wir jedoch nicht gerechnet hatten war das meist miserable Angebot der Dorfläden, Magazin Mixt genannt. Dem Anspruch als Gemischtwarenladen wurden sie schon gerecht. In den Regalen des Dorfladens von Cosnea, dem nächsten Dorf, langweilten sich Gläser mit Kirschkompott neben Flaschen mit Alkohol (87%) und getragenen Damenschuhen. Wir hatten nur noch drei Müsliriegel und brauchten dringend was zu beißen.
Im Dorf war nichts los, die meisten waren draußen auf den Bergwiesen zum Grasmähen. Hinter einem Zaun standen ein paar Frauen und Männer rum, die ihren Selbstgebrannten vom vergangenen Jahr probierten. Ich fragte, ob es hier irgendwo Brot zu kaufen gäbe. „Bei Victoria“, lautete die Antwort. „Geht 100 Meter zurück, dann rechts.“ Victoria war Ende 50 und hatte nicht nur selbstgebackenes Brot, sondern ein richtiges kleines Geschäft im Flur ihres Hauses. Sie verkaufte Tomaten, Zigaretten, Erdbeermarmelade, Schokolade, Bier, das ebenfalls Ciuc hieß, und vieles mehr. Über den Hof sausten Zwerghühner, Puten und Gänse und ihre Kunden. Kinder kauften Schokolade, Frauen traten aus der Tür, Brote unter den Armen und der Dorfpope brauchte ein paar Stahlnägel.
Hinter dem nächsten Paß lag die Gemeinde Lunca de Sus, am Trotus-Bach. Dem Tal folgt eine der zwei Bahnlinien durch die Ostkarpaten. Sie verbindet Transsilvanien mit der Moldau und trennte Michael und mich. Micha mußte zurück nach Deutschland, etwas fürs Studium tun, wie er sagte. Ich mußte erst mal Rumänien verlassen. Mir fiel mein Visum für die Ukraine ein, es galt vom 1. August bis zum 15. September, heute war bereits der 13. August - die Waldkarpaten der Ukraine warteten.
 
Die Maramures
 
Auf Platz 75 im Wagen Nr. 7 saß schon jemand, d.h. das ganze Abteil war voll, wie seine Insassen, Gendarmen des ersten Diensthalbjahres am Ende ihres Urlaubs. Ich kramte meine Platzkarte aus der Hosentasche, in der Hoffnung, damit Eindruck zu schinden. Wenn die nicht wollten, würde mir nichts weiter übrigbleiben, als es mir auf dem Gang bequem zu machen. Doch es klappte, man rückte zusammen und ich quetschte mich dazwischen. Mein Nachbar reichte mir 'ne Flasche Kirschlikör und der Zug setzte sich in Bewegung.
In einem Ort, der Salva hieß, stolperte ich aus dem Zug, es war mitten in der Nacht. Ich setzte mich auf den Bahnsteig und wartete zähneklappernd auf den Anschlußzug, der mich nach Sighetu Marmatiei, der Hauptstadt der Maramures, bringen sollte. Von dort sollte ein Zug nach Rachow in die Ukraine fahren. Der Zug fuhr, allerdings gestern vormittag, heute war Samstag. Der nächste würde in vier Tagen fahren, erfuhr ich von der Dame hinter dem Fahrkartenschalter. „Wenn sie in die Ukraine wollen, müssen sie nach Halmeu oder Siret, wir haben keinen internationalen Grenzübergang“, säuselte sie lächelnd. Das hatte mir gerade noch gefehlt, Halmeu oder Siret, beides war ein Umweg, der mich ein paar Tage kosten würde. Ich entschied mich schließlich für Halmeu, so konnte ich den „Lustigen Friedhof“ in Sapânta besuchen, er lag an der Strecke.
 
Fuhrwerke polterten über die Dorfstraße, je nach Wohlstand des Bauern wurden sie von einem oder zwei PS gezogen. Den Pferden mit ihren roten Bommeln am Kopf begegnete eine Herde Kühe, die eine Oma über den Asphalt trieb. Am Straßenrand watschelten Gänse durch Regenpfützen. Ich lief durch ein richtiges Dorf, so wie ich es aus Kinderbüchern kannte. Die Häuser, oft aus Holz, waren mit Lehm verputzt und anschließend blau, gelb oder pink gestrichen worden. Sie erinnerten mich an die Bergblumen im Bucegi. Über einem Zaun hing Schafwolle zum Trocknen und vor den meisten Gehöften saßen Frauen mit Spinnrad, Rocken und Webstuhl, die aus der Wolle Jacken, Westen, aber vor allem Decken fertigten. Doch das Originellste in Sapânta ist sein „Lustiger Friedhof“. Ion Patras, ein Holzschnitzer aus dem Dorf, schuf zu seinen Lebzeiten die Grabkreuze, auf denen die kleinen Sünden und Laster der Verstorbenen zu sehen sind. Spieler, Trunkenbolde und Diebe liegen hier friedlich nebeneinander. Hirten waren in der Regel gute Menschen, wie mir schien. Ich sah kein Bild, das einen Hirten einer Missetat bezichtigte. Der Alkohol dagegen mußte auf viele anziehend gewirkt haben. Leider verstand ich die Texte unter den Bildern nicht.
 
Ein Lieferwagen setzte mich am nächsten Tag in Satu Mare ab, ich gab ihm 5000 Lei und trödelte zum Bahnhof. Es gab gleich mehrere Züge in die Ukraine, der nächste fuhr 15.30 Uhr. Ich schaute auf die Uhr, es war fünf Minuten vor halb vier. Mit einem Satz stürzte ich zum nächsten Schalter. „Ich kann ihnen kein Ticket verkaufen“, sagte die Dame. „Das geht nur im Zug beim Schaffner“. Der Zug fuhr eben ein, ich schnappte meinen Krempel und spurtete auf den Bahnsteig. Zum Glück hantierte ein Schaffner gerade an einer Abteiltür rum. Ich fragte ihn nach dem Preis für ein Ticket, Achselzucken war die Antwort. Er verschwand im Waggon, ich sollte ihm folgen. Er wühlte sich durch den Zug, um mich schließlich dem Schlafwagenschaffner zu übergeben, der etwas englisch sprach. Ich sollte mich erst mal setzen. Als sich der Zug in Bewegung setzte, kam er zurück, einen Taschenrechner in der Hand. „Wir halten in Djakowo und Tschop, wohin willst du?“ fragte er. Djakowo lag gleich hinter der Grenze und somit näher an den Karpaten. „Djakowo“, sagte ich. Seine Finger sausten über die Tasten des Rechners, er faselte was von 27 km, kritzelte auf ein Stück Papier herum und kam auf die stolze Summe von 30 US- Dollar. Sowas hatte ich vermutet. Satu Mare - Djakowo, das waren knapp 30 Kilometer, der Typ verlangte wahrhaftig über einen Dollar je Kilometer. Ich könnte in Halmeu, dem rumänischen Grenzübergang, aussteigen. Aber was, wenn man mich dort auch nicht rüberließ, ohne ein ordentliches Bakschisch? Wir einigten uns auf 20 Dollar und er mußte mir beim Ausfüllen der Zollerklärung helfen.
 
In der Ukraine
 
Einreise
 
Die erste Frage des Zöllners war ziemlich dämlich: „Haben Sie Waffen, Betäubungsmittel oder Rauschgift?“ Ich hatte ein Taschenmesser und Aspirin, wollte jedoch keine Schwierigkeiten und antwortete brav: „Nein!“
Dann kam die zweite Frage, und die war noch dämlicher: „Warum nicht?“
„Hm, ähm ...“ Ich hätte ihm doch das Messer zeigen sollen.
Mein Rucksack interessierte ihn nicht sonderlich. Dafür wollte er genau wissen wieviel Geld ich einführte, um zu überprüfen, ob ich meine Zollerklärung korrekt ausgefüllt hatte. Schein für Schein stapelte sich auf der Sitzbank des Zugabteils. Vier Augenpaare stierten auf das Häufchen - es waren etwa 200 Dollar und 60 Mark. Blöd kam ich mir dabei vor. Schließlich brauchte niemand zu wissen, was ich so an Finanzen mit mir herumschleppte. Das war's. Jetzt fehlte nur noch mein Paß. Endlich - ein Soldat rannte aus dem Grenzgebäude und reichte mir den Ausweis durchs Abteilfenster. Ein Pfiff ertönte, gefolgt von einer Rauchwolke, der Zug ruckte an, und ich war in der Ukraine.
 
In Djakowo, dem ersten Ort hinter der Grenze, stieg ich aus und hatte ein Problem. Ich brauchte Grywen, die Währung der Ukraine. Normalerweise wäre das kein Problem, doch erstens war Djakowo ein Kaff, und zweitens konnte ich auf russisch lediglich „Guten Tag“ sagen und ein Bier bestellen. Ich schulterte meinen Rucksack und lief los.
Die Leute hockten auf Bänken vor ihren Häusern und kauten Sonnenblumenkerne. Sie schauten mich an wie ein Marsmännchen. In meinem Sprachführer suchte ich im Kapitel „Geld“ die passende Frage aus, prägte mir den Satz ein und ging auf eine etwas üppige Dame mittleren Alters zu. Sie unterhielt sich mit einem älteren Herrn. „Die sprechen ja ungarisch“, stellte ich besorgt fest. Ich würde bloß Bahnhof verstehen. Trotzdem nahm ich all meinen Mut zusammen und leierte die Frage runter - es klappte. „Versuchen Sie's im Café Tisa“, sagte sie.
Das Café lief gut, die Gäste zahlten in Dollar. „Wieviel?“ fragte der Boß, ein Schwergewicht im Anzug, dem der Schweiß auf der Stirn stand. Ich holte einen 50 Dollar Schein raus. Wurstfinger hielten ihn gegens Licht. „Okay“, brummelte der Mann und verschwand, um mir kurz darauf 90 Grywen unter die Nase zu halten.
Jetzt mußte ich nach Winogradow, von dort sollte morgen ein Bus nach Rachow fahren.
 
Die Schwarzen Berge
 
Das Haar des Busfahrers war schon weiß, sein Gesicht zerknittert - der Bus hatte vermutlich das gleiche Alter.
Die Turbaza (Touristenherberge) in Rachow erinnerte mich an das Café in Djakowo, beide hatten den selben Namen: Tisa, nach dem Fluß Theiß, der durch das Städtchen fließt.
In dieser Herberge, hatte man eine eigene Taktik entwickelt, Fremden das Geld aus der Tasche zu ziehen. 11 Grywen kostete das Einzelzimmer.
„Haben Sie noch ein Zimmer frei?“ fragte ich die Dame an der Rezeption. „Ja“ oder „Nein“ hätte ich jetzt erwartet, doch ihre Antwort überraschte mich.
„Woher kommen Sie?“ wollte sie wissen. Verschwand hinter einer Tür, kam wieder und erklärte mir, daß ich nur noch ein 3-Bett-Zimmer bekommen könne, das 33 Grywen koste. Mittlerweile mit den hiesigen Gepflogenheiten bestens vertraut, einigten wir uns auf 22 und ein Doppelbettzimmer. Das Zimmer lag im 1. Stock, mit Blick auf den Friedhof, ohne Strom und warmes Wasser, dafür stand auf dem Tisch die typisch russische Teemaschine - ein Samowar und im Bett räkelten sich Ohrwürmer.
„Ich hab gehört du willst zur Gowerla?“ fragte mich jemand am nächsten Morgen, als ich mir eben ein Eis kaufen wollte. In den Bergen muß ich auf Leckereien wie diese verzichten, bin ich dann zurück in der Zivilisation, kann ich mich kaum bremsen. Dmitriy kam aus Kiew und hatte mit angehört, als ich versuchte den Weg zum höchsten Berg der Ukraine herauszufinden. Die Gowerla ist 2061 m hoch und liegt im Tschernogoramassiv - den Schwarzen Bergen - im südlichsten Teil der Waldkarpaten. Da ich mich in der Regel mit Händen und Füßen verständigte, mußte ich Dmitriy zwangsläufig aufgefallen sein. Er hatte Elektronik studiert, jobbte aber in einem Reisebüro in Dubai. In seinem Beruf fand er hier nichts. Außerdem lag der Lohn in der Ukraine im Durchschnitt bei nur 70 Grywen im Monat. Wir reisten gemeinsam weiter. Ursprünglich wollte ich von Rachow, dem Tal der Weißen Theiß folgend, von Süden zur Gowerla. Doch das Land südlich der Gowerla war Reservat. „Für Touristen gesperrt“, meinte Dmitriy. Wiedermal mußte ich meinen Plan ändern. Wir wollten mit der Bahn bis Jasinja, und von dort zu Fuß ins Tschernogoramassiv.
Der Zug nach Jasinja ähnelte einem Ameisenhaufen. Auf den Holzbänken drängelten sich bis zu vier Personen, Bäuerinnen, alte Mütterchen und schwatzende Männer. Im Gang stolperte ich über Säcke, Körbe und Frauen, die Bier, belegte Brote und Kuchen verkauften.
Jasinja bedeutet Esche und galt als Hauptstadt der Huzulen. Als die einzigen berittenen Hirten in den Karpaten waren sie eine Art „Karpatencowboys“. Sie lebten bis zum Anfang unseres Jahrhunderts als Halbnomaden von der Schaf- und Rinder-, vor allem aber der Pferdezucht. Wie lange die Huzulen schon im Tschernogora-Gebirge, sowie in den Tälern der Flüsse Prut und Tscheremosh leben und woher sie einst kamen, weiß heute niemand genau.
 
Am Mittag des nächsten Tages kraxelten wir durch dichten Fichtenwald, stopften uns mit Himbeeren voll und lernten am Abend Ljuba kennen. Sie war eine Pastushka (Kuhhirtin). Dmitriy fragte sie, ob wir heute in einer der Hütten schlafen dürften. „Ihr seid zu zweit?“ wollte Ljuba wissen. „Dann könnt ihr mit bei uns schlafen. Gestern waren es 12.“ In der Hütte knisterte ein Feuer, darüber ein Topf mit Nudeln hing. Auf Brettern lagen Pilze zum Trocknen aus und an der Wand hingen Holzkellen, Töpfe und Löffel. Wir rollten unsere Schlafsäcke in eine Ecke, Ljuba öffnete die Tür und brachte uns einen Eimer frisch gemolkener Milch. Jeden Morgen und jeden Abend mußte sie über 100 Kühe melken. Tagsüber kümmerte sie sich um die Hütte, holte Feuerholz, kochte Essen und sammelte Pilze. „Bin jetzt den 33. Sommer hier oben.“ Stolz lag in ihrer Stimme. „Aber nun merke ich es schon manchmal - das Reißen im Rücken.“ Sie arbeiteten zu viert auf der Station. Eine Freundin aus Jasinja half Ljuba. Zwei Männer trieben tagsüber die Kühe auf die Weide. Die Kühe gehörten den Leuten aus den Dörfern. Die Viehbesitzer bezahlten die Hirten und bekamen im Gegenzug Milch, je nachdem wie viele Tiere sie besaßen und wieviel Milch diese gaben.
Wir sollten uns um das Feuer kümmern, es durfte nicht ausgehen. Vielleicht glaubten die Hirten noch immer, daß es Mensch und Vieh Unglück bringen könne.
Ljuba nahm kein Geld für die Unterkunft, drückte mir statt dessen eine Axt in die Hand und sagte: „Macht mir lieber ein paar Holzscheite fürs Kochfeuer, aber nicht zu klein.“ Wir wechselten uns ab beim Holzhacken und bekamen zum Abschied noch frischen Schafskäse. „Schaut wieder mal vorbei“, rief Ljuba. Dann folgten wir dem Hirten zur Gowerla.
 
Jemand, der jetzt in München lebt, hat das Gipfelkreuz gespendet, laß ich auf einer Metalltafel unter dem Kreuz. Vom Gipfel aus konnte ich Rumänien sehen. Am Horizont erstreckte sich die Kette des Rodna-Gebirges, blau und winzig, wie Streuselkuchen. Der höchste Krümel hieß Pietrosul - ich würde ihn erst am Ende der Tour besuchen. Etwas näher, mehr im Südosten, lag Pop Iwan, der zweithöchste Berg des Tschernogoramassivs - „Der aus den Wolken trinkt“ nennen ihn die Huzulen. Heute mußte er dürsten. Dazwischen wuchs Wald, dicht, dunkel und geheimnisvoll. Es war das Reservat von dem mir Dmitriy erzählt hatte. Wolf und Karpatenbär - der größte Gebirgsbär der Welt - lebten dort. Bis zum Anfang unseres Jahrhunderts trieben außerdem huzulische Räuber ihr Unwesen in den Wäldern. Oleska Dobosch galt als der Berüchtigtste. Geplünderte Kaufleute, erschlagene Gutsherren und vergewaltigte Bürgerstöchter gingen auf sein Konto. 1745 wurde er aus dem Hinterhalt erschossen. Heute ist es wieder ruhig in den Bergen, das Gefährlichste, was uns hätte begegnen können, wäre eine Meute Hirtenhunde. Doch auch davon blieben wir verschont.
Stundenlang konnte ich so auf dem Gipfel sitzen und einfach nur schauen, bis sich die Sonne verabschiedete. Ich fühlte mich dann, als ob ich schon immer ein Teil dieser Berge war.
 
Unter uns im Osten lag das Sportlerheim von Worochta. Dort wohnten und trainierten zur Zeit die zukünftigen Olympioniken der Ukraine. Wir stiegen ab, vielleicht konnten wir in dem Heim übernachten. Es war voll, aber Dmitriy gab noch nicht auf. Ein Stück weiter stand das Heizhaus.
„Habt ihr Wodka?“ fragte der Heizer. Hatten wir leider nicht. Dmitriy verhandelte mit dem Mann und einigte sich schließlich auf 5 Grywen fürs Übernachten einschließlich warmes Wasser zum Duschen. Wir schliefen auf Turnermatten, aus denen die Asbestfüllung rieselte...
 
Das Swidowetsmassiv
 
Dmitriys Zug nach Lwow fuhr um Mitternacht, sein Urlaub war zu Ende.
Mein nächstes Ziel hieß Ust - Tschorna, im Tal des Tereswa-Flusses. Ich mußte irgendwie zurück nach Jasinja und von dort etwa 30 km über die Swidowets-Berge laufen. Sie bilden den mittleren Teil der Waldkarpaten. Ihr höchster Punkt heißt Bliznitsa (1880 m). Ich trampte, wurde in Jasinja abgesetzt und lief über eine Stunde, bis ich den Abzweig zur Touristenstation Dragobrat unterhalb der Bliznitsa fand.
Das Massiv hatte zwar keinen Nationalparkstatus, trotzdem versperrte mir ein Schlagbaum den Weg. Im Kontrollhäuschen saß niemand. Ich schlüpfte unter der Schranke durch und baute neben dem Forstweg mein Zelt auf.
Blauer Enzian und eine blaue Bandmarkierung begleiteten mich bis Dragobrat, Skilifte bis zum Kamm. Unterhalb des Dogjaska-Gipfels sah ich einen See. Es war mein erster See in der Ukraine - ich blieb.
 
Am nächsten Morgen, als die Sonne eben über die Bergspitzen kroch, stand ich schon auf dem Kamm. Am Horizont erschien ein Punkt, der langsam näher kam und sich als LKW entpuppte, dem die rechte Motorhaube fehlte, was an sich nichts Besonderes war. Was mich stutzig machte war die Tatsache, einem LKW zu begegnen, wo sich sonst nur Wanderer und Hirten herumtrieben. Auf der Ladefläche hockten ein Dutzend Menschen. Einige mit Videokameras bewaffnet, fingen gleich an, mich zu filmen. Der Fahrer hielt, pinkelte neben seinen Wagen und sagte, daß er mich auf der Rückfahrt bis Ust - Tschorna mitnehmen könne. Da ich noch nie auf einem Gebirgskamm getrampt war, gefiel mir der Vorschlag. Ich lief weiter, wartete ab und zu, doch kein LKW kam - ich war am Abzweig nach Ust - Tschorna vorbeigelaufen. So stolperte ich über verwaiste Hirtenpfade nach unten und erreichte das Tereswa-Tal 3 bis 4 km südlich des Dorfes.
Königsfeld hieß das Dorf zur Zeit Maria Theresias. Sie siedelte im 18. Jahrhundert Tiroler Familien dort an.
Als erstes begegneten mir Kühe, hinter dem Friedhof - Günter. Er war Deutscher, Ende 40 und einer der letzten in Ust - Tschorna. „Ich wurde in Sibirien geboren“, erzählte er mir. „Die ersten 4 Jahre wuchs ich in einem Lager auf. Alle Deutschen, die arbeiten konnten, wurden 45 nach Sibirien verschleppt - meine Eltern auch.“ Jetzt wolle er mit seiner Familie nach Deutschland zu seinen Verwandten. „In 4 bis 5 Jahren habe ich Deutsch völlig verlernt“, sagte Günter resigniert.
 
Nach Kolotschawa, dem nächsten Karpatendorf, führte mich die Erdgasleitung „Sojus“. Wie eine schlecht verheilte Narbe zog sie sich über die Berge. An manchen Stellen rosteten noch immer eineinhalb Meter dicke Rohre vor sich hin. Es lief sich nicht besonders gut. Zu sehen gab es auch nichts, da um mich herum alles in Wolken gehüllt war. Den Blick auf den Boden geheftet, wollte ich nur noch Strecke machen und erschrak, als mich plötzlich jemand anredete: „Wie spät ist es?“ fragte mich ein Hirte und hielt mir seine Uhr hin. Sie war stehengeblieben. Die Zeiten in der Ukraine brachten mich völlig durcheinander. Offiziell galt im ganzen Land Osteuropäische Zeit, westlich der Karpaten wurde dagegen MEZ verwendet, und Ljuba lebte sogar nach Westeuropäischer Zeit, solange sie in den Bergen war. Ich stellte ihm die Uhr auf MEZ, denn die Mitte Europas liegt immerhin in den Waldkarpaten, etwa 25 km südwestlich von Rachow.
Die Kinder in Kolotschawa grüßten mit „Ahoi“, sie hielten mich für einen Tschechen. Die meisten Wanderer, denen ich in der Ukraine begegnete, waren Tschechen. Sie hatten keine Probleme sich zu verständigen, tschechisch und ukrainisch sind einander ähnlich. Das Angebot in den Läden ähnelte sich auch: Wodka und Schokolade konnte man überall kaufen. Mit Bier und Brot mußte man schon etwas Glück haben, Obst und Gemüse gab es dort dagegen selten. Ich kaufte es bei den Straßenhändlern. In Kolotschawa bekam ich alles, sogar Wasser aus dem Dorfbrunnen gegenüber der Holzkirche.
 
Zum Ozero Sinewir
 
Der See Sinewir lag etwas abseits meiner Route. Da ihn mir Dmitriy empfohlen hatte, nahm ich den Umweg in Kauf. Ich blieb auf der Straße, die dem Tereblja-Fluß folgte und nach Sinewirskaja Poljana führte. Einer Legende nach entstand der See aus den Tränen von Sin, der Frau des Wir, einem Hirten, der an dieser Stelle im Fluß ertrank. Ich mochte den See nicht. Alles war so künstlich. Der Pfad drumherum, die Picknickunterstände oder die Verbotsschilder: „Du sollst nicht Zelten“, „Du sollst kein Feuer machen“, „Du sollst keinen Furz lassen“, usw. Ich fühlte mich wie in einem Museum. Immerhin durfte ich Himbeeren pflücken und in einem der Unterstände biwakieren.
 
Es nieselte am Morgen. Ich wollte nach Torun, einem Bergdorf im Rika-Tal, und von dort zurück zum Hauptkamm - der Borshawa Polonina Bergkette.
Der Weg nach Torun war nicht einfach. Bisher war alles ordentlich. Ich lief über die Grasmatten der Berge und hatte mein Ziel immer vor Augen. Jetzt sah ich nur Bäume, Farngestrüpp und Schlammpfade, die ständig ihre Richtung änderten. Ich holte meinen Kompaß aus dem Rucksack und blätterte in den kopierten Seiten meines Reiseführers. „...folge den gelben Streifen“, stand da. Ich fand keine und laß weiter: „... nachdem du dich 7 Minuten durchs Dickicht geschlagen hast...“, ich schlug mich ein paar Stunden, erreichte gegen Mittag Torun und stürmte den Dorfladen.
„Sind Sie etwa allein?“ Es war mit Abstand die häufigste Frage die mir auf der Tour gestellt wurde. Meistens gefolgt von der Frage, ob ich kein Auto hätte. Die Frau hinter dem Ladentisch wollte es noch genauer wissen: „Haben Sie denn keine Freunde?“ Ich nuckelte an meiner Cola aus Sibirien, die nach Apotheke schmeckte und überlegte mir eine Antwort. „Ähm, doch schon, aber man braucht ja ein Visa und so...“ Daß ich ganz gern auch mal allein reise, hätte sie sicher nicht verstanden. Ich konnte Entscheidungen treffen, diese wieder verwerfen und wenn was schief lief, schimpfte ich mich selbst einen Trottel.
 
Die Poloninas
 
Ritschka liegt am Fuß der Polonina-Berge in den mittleren Waldkarpaten und hatte, wie die meisten Orte, ein Café. Der Name war irreführend, denn getrunken wurde in der Regel Wodka. Ich hatte schon erlebt, daß es kein Wasser gab, keinen Schnaps zu haben war jedoch abgrundtief verdorben. An der Theke standen drei Dörfler. „Was wiegt der Rucksack?“ fragte einer. Er war schwer, das wußte ich, aber ich hatte ihn nur einmal gewogen, das war daheim. Auf stattliche 40 Kilo hatte er es damals gebracht. Jetzt wog er weniger. Ich rechnete die Slowakei- und Rumänienkarten ab, die bei Tudor in Rumänien lagen, sowie einen erheblichen Teil meiner Verpflegung. „30 Kilo“, sagte ich. Ungläubige Gesichter starrten mich an. Jeder hob den Rucksack einmal hoch - unverständliches Kopfschütteln. Ich mußte mich setzen, bekam ein 100-Gramm-Glas, die Wirtin schenkte ein, und ich stieß an - auf daß die Tour gelang. Das Zeug schmeckte nicht mal schlecht. Zum Nachtisch gab es Schokolade, denn ein Ukrainer trinkt den Wodka nie, ohne danach etwas zu essen. Die zweite Runde setzte ich aus. Mir fiel ein Spruch ein: Für einen Russen sind 1000 Kilometer nicht weit, 10 Grad minus nicht kalt und 100 Gramm nicht viel, das paßte auch auf die drei Ukrainer.
 
Das ein Deutscher allein mit einem 30-Kilo-Rucksack durch die Karpaten zog war zwar selten, wurde aber akzeptiert. Daß ich keine Waffe hatte, verstanden sie genausowenig wie der Zöllner bei der Einreise in Djakowo.
„Na wegen der Wölfe.“ Erst als ich versicherte, daß mir bis jetzt noch kein Wolf über den Weg gelaufen sei, beruhigten sich die drei.
Ich verließ das Café mit der Gewißheit, daß ich heute nicht mehr weit gehen würde. Der Weg, dem ich folgte, war falsch. Ich merkte es nach einer Stunde. Am nächsten Morgen trommelte mich der Regen aus dem Schlafsack. Ich lugte unter der Apsis hervor und sah nichts - keine Berge, keine Bäume und auch keine Wölfe. Auf dem Kamm heulte bloß der Wind, und der Nebel fraß alles, was sich weiter als 5 Meter von mir entfernte. Mit dem Kompaß in der Hand suchte ich den ersten Pfad, der nach Norden führte, und stieg ab.
Unten empfing mich eine Herde Kühe - das Dorf hieß Pilipets. Die Bewohner dieser Region waren Bojken. Wie ihre Nachbarn, die Huzulen, lebten sie von der Viehzucht. Es wird erzählt, daß sie im 13. Jahrhundert in der Nähe des Dorfes Tuchla den westwärts stürmenden Mongolen die einzige Niederlage zufügten, so daß jene gezwungen waren, sich einen anderen Weg durch die Karpaten zu suchen. Sie fanden ihn 1241 weiter im Süden über den Rotunda-Paß, der das Suhard-Gebirge vom Rodna-Gebirge, meinem Finale, trennt.
 
Ein Schrott-LKW der Marke GAZ (er hatte Schrott geladen) nahm mich mit nach Wolowets. Wolowets hatte für mich keine Identität. Orte wie Djakowo oder Ritschka waren Dörfer. Rachow war ein Städtchen. Wolowets dagegen war weder das eine noch das andere. Neben Holzhäuschen ärgerten vor sich hin bröckelnde Wohnsilos das Auge. Immerhin lag Wolowets an der Bahnlinie Moskau - Prag bzw. Budapest, das machte es wichtig. In einem, sagen wir Supermarkt, kaufte ich noch was zum Abendbrot (die hatten slowakisches Bier), dann schleppte ich mich noch bis zum Mentschulpaß oberhalb des Ortes.
Zwei Wochen war ich nun schon in der Ukraine unterwegs, wenn nichts dazwischen kam würde ich es in 2 bis 3 Tagen geschafft haben.
Die Pfützen am Straßenrand wurden größer. Als es am stärgsten goß, flüchtete ich in Imbißbuden und trank Kaffee. Das klappte ganz gut, obwohl die Dame hinter dem Tresen in Unter-Worota lieber an ihren Hühneraugen rumpolkte, und der Wirt in Shdenewo kein Wasser hatte.
Dem Shdenewka-Tal folgend erreichte ich am nächsten Tag Ushok, nahe der Grenze zu Polen. Es war Sonntag, dem Namen nach. Ich hatte es geschafft. Vor lauter Freude lief ich ins Nachbardorf Wolosjanka. Es war der 1. September und etwa drei Viertel der Tour lagen hinter mir. Mein Visum verfiel erst in reichlich einer Woche. Trotzdem wollte ich zurück nach Rumänien und den Rest laufen.

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