Tour´97
- Die Karpaten auf einmal! / Bericht von Falk aus Norsingen bei
Freiburg
Karpaten`97
- Teil 1 / 2 / 3
Autor:
Falk Kienas ... http://www.karpatenbilder.net
Inhalt
Seite: 1 ...[Die Idee] [Der Start] [Rumänien] Die Banater
Berge: [Durch die Nera-Klamm] In den
Südkarpaten: [Das Godeanu-Gebirge] [Sturm] [Der Abstieg] [Sarmizegetusa] [Das Retezat-Gebirge] [Das Paring-Gebirge] [Das Lotru-Gebirge] [Der Unfall] [In Sibiu] [Karpatenhirten]
- Die Idee
-
- Wir befinden uns im Jahre
1988 n. Chr. Alle Hochgebirge Europas, wie Alpen,
Pyrenäen oder die Berge Skandinaviens, sind für einen
Bergwanderer aus dem Osten Deutschlands unerreichbar.
Alle? Nein! Östlich von Wien beginnend, bilden sie einen
1500-Kilometer-Bogen im Osten Europas - die Karpaten.
- Mit Uli, einem Freund, sitze
ich am 3. August im Balt-Orient-Expreß nach Rumänien,
unser Ziel: die Westkarpaten.
- Es ist meine erste Bergtour,
und als Neuling geistern mir allerlei Fragen durch's
Hirn: Wird es schwierig sein das Zelt aufzubauen? Reicht
das Essen? Wie können wir uns verständigen, ohne
Sprachkenntnisse? Reichen unsere zwei Wochen Urlaub für
die Tour?
- Sie reichten und ich war
begeistert. In meinem Kopf fing es an zu spuken, eine
Idee, die mich nicht mehr loslassen sollte: Einmal, so
wünschte ich mir, werde ich sie laufen, vom Banat in
Rumänien bis zur Donau in der CSSR - die Karpaten.
-
- Der Start
-
- 22. Mai 1997. Mit Uli sitze
ich im Linienbus Freiburg-Bukarest, unser Ziel die
Karpaten. Ich war im Begriff mir meinen Wunsch zu
erfüllen. Zu Fuß durch die Karpaten, das hieß, 1500
Kilometer laufen, durch 3 Länder Europas: Rumänien, die
Ukraine und die Slowakische Republik.
- Uli wollte mich auf den
ersten vier Wochen durch die Südkarpaten begleiten. Fast
9 Jahre sind seit unserer ersten Reise verstrichen.
Vieles hat sich verändert. Das Wichtigste: Alle Gebirge
der Erde sind für einen Bergwanderer aus dem Osten
Deutschlands erreichbar.
- In Kanada, Neuseeland und
Wales konnte ich genügend Trekkingerfahrung sammeln, in
der Volkshochschule lernte ich etwas Rumänisch und auch
den bürokratischen Teil meiner Vorbereitungen
bewältigte ich mit Erfolg. Mein Rumänien-Visa galt 6
Monate, das der Ukraine 6 Wochen, für die Slowakische
Republik brauchte ich keins. Den Job hatte ich
geschmissen und hoffte, mein Ziel bis zum Einbruch des
Winters, so Ende Oktober, erreicht zu haben.
- Rumänien
-
- 400 Mark sollte Florin, der
Busfahrer, zahlen, sonst würden die vier Zöllner ihren
Job mal gründlich machen, und den Bus für einige
Stunden aus dem Verkehr ziehen. 200 Mark kriegen
die im Monat, schimpfte mein Vordermann, ein
Deutschrumäne aus Südbaden. Jetzt verdienen die
in einer Minute die Hälfte. Florin zahlte
angeblich aus der eigenen Tasche, um seinen Fahrplan
einzuhalten, und wir sammelten danach, um seinen Verlust
auszugleichen - ich war wieder in Rumänien.
- Die Löcher in der Straße
wurden größer, dazwischen tummelten sich Fuhrwerke,
Schafe, Rinder, Hunde und Geflügel.
- Arad, die erste Stadt nach
der Grenze, wirkte wenig einladend. Die Wohnblocks an der
Straße sahen nicht so aus, als ob sie das Jahr 2000
miterleben dürften. Wichtige Dinge an ihnen, wie
Mörtel, Putz oder Fensterscheiben fehlten zum Teil. Ich
fragte mich, ob letztere einfach vergessen wurden oder
irgendwann einmal rausgefallen sind.
- Neben den Gleisen der
Straßenbahn schliefen Zigeuner, Kinder hockten auf dem
Gehsteig, schnüffelten Klebstoff und an der Haltestelle
standen Männer, Bündel mit Geldscheinen in den Händen.
Es waren 10 000 und 50 000 Lei Scheine, die Währung
Rumäniens.
- Immer erst die Leis
geben lassen, nie umgekehrt!, warnte mich der
Badener, als ich etwas Geld für den Anfang tauschen
wollte.
- Das zweite Mal hielt der Bus
in Timisoara, unserer Endstation. Als Ausgangspunkt der
Tour wählten wir Sasca Româna, ein Dörfchen am Rande
der Banater Berge, wenige Kilometer westlich der
Nera-Klamm.
- Die Banater Berge
-
- Durch die
Nera-Klamm
-
- Der
erste Tag auf meinen zurückliegenden Bergtouren
gestaltete sich immer folgendermaßen: aus einem Tal
schindete ich mich hoch bis zum Kamm und war froh, daß
ich abends vorm Zelt sitzen konnte und meine Suppe
löffeln durfte. Das sollte auf diesem Marsch anders
werden, und die Nera-Klamm bot eine ausgezeichnete
Alternative als Auftakt meiner Karpatendurchquerung. Die
Nera entspringt im Zentrum des Banater Berglandes, dem
Semenic-Gebirge. Westlich des Dorfes Sopotu Nou schneidet
sie sich durch den Kalkstein des Anina-Gebirges, und
bildet die 18 km lange Klamm, die kurz vor Sasca Româna
endet. Von dort sind es noch rund 30 km bis zu ihrer
Mündung in die Donau.
- Kurz hinter Sasca Româna
standen wir nun gebückt unter der Rucksäcke Last und
eingehüllt in eine Staubwolke, die der Dacia hinter sich
ließ, nachdem uns der Fahrer abgesetzt hatte. Jetzt, als
es ernst wurde, fühlte ich mich nicht gerade zum Bäume
ausreißen. Uli schien es ähnlich zu gehen. Da drückte
der Rucksack, das würde er auch noch nach 1000 km,
trotzdem ein guter Grund ihn abzusetzen, die
Teleskopstöcke hatten nicht die richtige Länge und die
Wasserflasche steckte auch noch nicht am rechten Platz.
Als alles zu passen schien, ein Blick auf die Uhr:
Viertel vor fünf, es ging los...
- Der Weg schlängelte sich
durch Maisfelder, die jungen Pflänzchen warfen in der
Nachmittagssonne lange Schatten auf den Acker. Bauern auf
ihren Pferdekarren rollten uns entgegen. Ihr
Hauptanbauprodukt ist Mais. Er dient als Viehfutter und
in Form von Maisbrei als rumänisches Nationalgericht -
die Mamaliga.
- Wir folgten dem Pfad hinunter
zum Fluß. Die Felder lagen hinter uns, vor uns lagen
bewaldete Hügel aus denen ab und zu weiße Kalkfelsen
herausschauten. Auf den Wiesen am Ufer leuchteten Wicken,
die uns bis an die Hüften reichten.
- Vor 17 Jahren lief Uli schon
einmal durch die Klamm. Er hatte einen bemerkenswert,
exakt ausgearbeiteten Plan, was die Tagesetappen unserer
Tour betraf. So wußte ich schon jetzt, wo ich in zwei
Wochen schlafen, und was ich zum Abend essen würde. Jede
seiner Reisen plante Uli vorab bis ins Detail. Das
Interessanteste aber war die Tatsache, sein Plan
funktionierte meistens nicht. Es wäre ganz gut,
wenn wir es heute bis Damians Haus schaffen
würden, rief er mir zu. Damals brauchten wir
zwei Stunden. Hinter besagtem Haus verengt sich das
Tal und die Klamm beginnt. Zwei Stunden verstrichen, kein
Haus weit und breit und meine Schultern wollten sich mit
den Rucksackgurten nicht so recht anfreunden. Drei gute
Gründe, den ersten Tag mit einem Bad in der Nera
ausklingen zu lassen.
- Als wir bis zum Mittag des
nächsten Tages Damians Haus immer noch nicht entdeckt
hatten, konnte irgendetwas nicht stimmen. Wir befanden
uns auf Abwegen, das war klar. Wo wir uns im Moment
befanden, war jedoch nicht so klar. Zum Glück hatte ich
vor meiner Abreise in einer Zeitschrift etwas über GPS
gelesen. Ich setzte meine
No-Problem-ich-habe-alles-im-Griff-Miene auf,
und holte das kleine, schwarze Wunderding aus dem
Rucksack. Drückte auf on und wartete. Als es
nach einer halben Stunde immer noch keine Satelliten
entdeckt hatte, kam es zurück in den Rucksack, weit nach
unten. Wir einigten uns auf's Umkehren und fanden
tatsächlich den rechten Weg. Er war mit einem roten Band
markiert, eigentlich kaum zu übersehen. Genausowenig wie
der Typ in grüner Uniformjacke. Die Nera-Klamm ist
Nationalpark und der Mann war der Pförtner. Wir zahlten
jeder 3000 Lei, bekamen eine Quittung und durften
passieren.
- Die letzte Stunde bis Damians
Haus, einem Bauernhof, war die reinste Quälerei. Da
wollte ich 1500 km durch die Karpaten wandern und hatte
nach anderthalb Tagen schon Blutergüsse auf den
Schultern. Ich mußte unbedingt Ballast abwerfen, doch so
einfach war das nicht. Das Essen war am schwersten, wurde
aber von Tag zu Tag leichter. Dann folgten die Karten.
Meine Karten deckten den slowakischen - sowie
ukrainischen Teil der Karpaten komplett ab, den
rumänischen Teil zu etwa zwei Drittel. Für das
restliche Drittel hatte ich Uli und meinen Instinkt. Ich
würde die ersten 3 Monate sicher mit einem Viertel der
Karten auskommen und mußte mir für die übrigen etwas
einfallen lassen. Doch nicht hier und jetzt.
- Im Moment mußten wir etwas
trinken, unsere Wasserflaschen gaben schon eine ganze
Weile nichts mehr her. Gute Gelegenheit meine
Rumänischkenntnisse zu testen. Haben Sie
Wasser? fragte ich einen Mann, der eine Kuh hinter
sich über den Hof führte. Er deutete mit dem Kopf zur
Nera und verschwand im Stall. Trinkwasser aus der Nera?,
das wollte ich meinem verwöhnten Magen dann doch nicht
antun. Die Kuh brachte mich auf eine Idee: Und
Milch? rief ich in Richtung Stall. Ich solle um
acht kommen, antwortete eine Frauenstimme.
- 2500 Lei wollte die Frau des
Hauses für einen Liter Milch. Ich kramte die Scheine aus
dem Rucksack und gab sie ihr. Sie überlegte kurz, gab
mir das Geld zurück und fragte nach Zigaretten. Ich
rauche zwar nicht, hatte für solche Gelegenheiten jedoch
immer etwas im Gepäck. Ich gab ihr eine Schachtel. Sie
ließ gleich den ganzen Eimer da. Nehmt den Rest
morgen mit nach Sopotu Nou, sagte sie lachend und
ging.
- Wir liefen am nächsten
Morgen bis uns die Felsen stoppten. Jetzt begann das
Abenteuer. Den in Fels gemeißelten Weg benutzten vor uns
römische Legionäre, nach ihnen Waffenschmuggler und
Soldaten. Ab und zu mußten wir auf allen Vieren durch
mehr oder weniger lange Tunnel kriechen. Die schwierigste
Stelle ist etwa 10 Meter lang. Am Fels baumelten vor sich
hin rostende Stahlseile. Uli balancierte an der Wand
entlang und kam ohne Probleme rüber. Ich mußte das
Stück dreimal laufen, da mein Rucksack zu hoch, und ich,
mit der Kameratasche vorm Bauch, zu dick war. Nach ein
paar hundert Metern endete der Pfad am Ufer der Nera, wir
mußten auf die andere Seite des Flusses. Ich konnte ohne
Probleme auf Felsen kraxeln, mich durch's Dickicht
schlagen und im Tiefschnee robben, vor
Flußdurchquerungen hatte ich jedenfalls Respekt. Bei so
einer Aktion ging ich mal gründlich baden, zerstörte
mir mein linkes Knie und versenkte eine 2000-Mark-Kamera
samt Objektiven.
- Das Wasser reichte mir hier
bloß bis zu den Knien und die Strömung war erträglich.
Weiße, kahle Felsen säumten die Nera, mal auf der
Nord-, mal auf der Südseite. Leider versperrten
Sträucher und Bäume oft die Sicht auf den Fluß. Die
Nera erinnerte mich an die Paddelflüsse im Süden
Frankreichs, ich würde sie sicher noch einmal besuchen,
mit einem Kanu im Gepäck. Schweigend folgten wir dem
Pfad, der nun immer am Südufer entlanglief und uns nach
6 Stunden aus der Klamm, auf die Poiana Mielugului, die
Lämmerwiese, führte. Lämmer gab es keine, dafür jede
Menge Pfefferminze. Wir konnten die Teebeutel im Rucksack
lassen.
- Der romantische Teil der Nera
lag hinter uns, es folgte der praktische. Auf den Wiesen
links und rechts am Ufer, mähten die Männer Gras. Die
Frauen rechten es zu Haufen. Wie weit ist es noch
bis Sopotu Nou? fragte ich einen Opa, der gerade
seine Sense schärfte. Noch 15 Mintuen, bis zur
Brücke, sagte er. Dann folgten die üblichen
Fragen nach dem Woher und Wohin. Mit zwei Deutschen hatte
der Mann offensichtlich nicht gerechnet. Germania?
Jejejeje, staunte er, schüttelte mit dem Kopf und
lachte. Seine oberen Zähne fehlten, da die unteren
jedoch doppelt so lang waren, machten sie die Lücke
wett. Die Wiese, auf der er arbeitete war ziemlich groß.
Ein Gesetz, das die neue Regierung in diesem Jahr
verabschieden will, würde jedem 50 Hektar Land und 30
Hektar Wald zuerkennen, vorausgesetzt die Eigentümer
oder deren Erben, können den Besitz vor der Agrarreform
1945 nachweisen, erklärte er uns. Bis jetzt
waren es nur 5 Hektar. Ich konnte mit 50 Hektar
nicht viel anfangen, überlegte und kam zu dem Ergebnis,
daß ich etwa 45 Minuten brauchen würde, um einmal
drumherum zu laufen. Noch weniger verstand ich, wie es
möglich ist, Flächen von dieser Größe mit den
primitivsten Geräten zu bearbeiten. Landmaschinen hatte
ich bis jetzt bloß in den aufgelösten Kooperativen
gesehen - verrostet und halb zerfallen. Mit dem Gesetz
halten sich die Herren aus der Politik
selbstverständlich auch soziale Unruhen vom Hals. Die
Arbeit auf dem Acker läßt den Menschen keine Zeit,
über ihre besch... Lage nachzudenken und deswegen
aufzumucken.
- Nach einer viertel Stunde
standen wir tatsächlich vor einer Brücke. Brücke war
eigentlich nicht das richtige Wort. Über knochenbleiche
Bretter, die an zwei Stahlseilen aufgefädelt waren,
konnten wir den Fluß überqueren. Links und rechts
baumelten noch zwei Seile, zum Festhalten.
- Sopotu Nou ist ein typisches
Dorf in Rumänien. Schweine, Gänse, Kühe und Pferde
kamen uns auf der Straße entgegen, eine Frau wusch ihre
Wäsche im Bach, Männer mittleren Alters bastelten an
einem Volkswagen rum und von den Hinterhöfen drang
Hundegekläff herüber. Unser nächstes Ziel lag bereits
in den Südkarpaten - das Godeanu-Gebirge. Ab dort
wollten wir etwa 280 km nach Osten, dem Kamm der
Südkarpaten folgen, bis ins Prahovatal am Fuße des
Bucegi-Massivs. Ein Bus sollte 3 Uhr nachmittags bis
Bosovic fahren, von dort hatten wir Anschluß nach
Herkulesbad. Da könnte ich dann auch mein
Gewichtsproblem lösen, indem ich ein Paket
unnötiger Dinge zu Tudor schicken würde, einem Freund
in Nordrumänien. Am Straßenrand stand ein Bus, wir
setzten uns daneben. Da hier sehr selten etwas passierte,
schenkten die Leute, besonders die Kinder, jeder
Neuigkeit besondere Aufmerksamkeit. Wir waren so eine
Neuigkeit.
- Mihai war 11 Jahre alt und
Roma. Wart ihr fischen? fragte er, nachdem er
eine Weile meine Teleskopstöcke betrachtet hatte. Ich
versuchte ihm zu erklären, daß ich die Stöcke zum
Wandern nehme. Natürlich, mit etwas Talent im
Improvisieren, sind sie auch als Angelruten brauchbar.
Gibst Du sie mir? fragte Mihai, als ihm klar
war, wozu die Dinger taugen. Du brauchst sie doch
nicht mehr, bist doch fertig mit Wandern. Es
brauchte etwas Geduld ihm zu erklären, daß ich noch
nicht fertig war. Dann führte er bessere Argumente ins
Feld: Gibst Du mir einen? Du hast doch zwei. Ich
muß jeden Tag so weit zur Schule laufen. Jetzt war
ich an der Reihe und ziemlich sprachlos. Das Argument
leuchtete ein: Wozu brauchte ich zwei Wanderstöcke?
Ähm, ja ... das ist so...
- Wir begegneten uns einfach zu
früh. Wäre ich die Tour in der anderen Richtung
gelaufen und die Nera-Klamm mein letzter Teil, hätte ich
ihm die Stöcke in die Hand gedrückt. Aber jetzt wollte
ich mich noch nicht von ihnen trennen. Zum Glück
gesellten sich seine beiden kleineren Geschwister dazu
und brachten Mihai erst einmal auf andere Gedanken. Aber
nicht für lang, die Stöcke faszinierten ihn nach wie
vor. Erst als ich alle drei mit Müßliriegel versorgt
hatte, durfte ich meine Stöcke behalten.
- Der Bus fuhr zwar um 15 Uhr,
aber nicht in unsere Richtung. Uns blieb nichts weiter
übrig, als zu trampen. Wir wurden zweimal abgesetzt und
stiegen in Herkulesbad im Hotel Roman ab.
-
- In den Südkarpaten
-
- Das
Godeanu-Gebirge
-
- Eine Schotterstraße führte
von Herkulesbad zum Cerna-Stausee, der sich an die
Ausläufer des Godeanu-Gebirges schmiegte, unserem
nächsten Abschnitt. 25 Kilometer waren es bis dortnin,
nicht viel, verglichen mit dem was noch vor mir lag, aber
langweilig. Nehmen wir ein Taxi, schlug Uli
vor. Dann hätten wir den verlorenen Tag in der
Nera-Klamm wieder raus. Die Idee gefiel mir.
- Das Taxi ähnelte den
Häusern in Arad. Zwar fehlte noch nichts Wichtiges, doch
das konnte sich ändern. Meine größte Sorge bestand
darin, unseren Fahrer zu verlieren. Er lenkte mit der
rechten Hand, die Linke hielt die Fahrertür fest, die
sich dauernd öffnete.
- Sein Fahrzeug war vermutlich
nicht für Überlandfahrten ausgelegt. Dreimal erkundigte
er sich bei Straßenarbeitern, ob er bis zum Stausee
fahren könne. Am Stausee angekommen, fiel dem Mann ein
Stein vom Herzen, keinen Meter wäre er weiter gefahren.
- Uns ärgerten bereits wieder
die Rucksäcke, als er noch immer über seinen Wagen
gebeugt, den Motor inspizierte. Ob er's zurück
schafft?, fragte ich mich.
- Die Forststraße führte noch
ein gutes Stück am See entlang.
- Wo der Ivanul-Bach in
den Stausee mündet, müssen wir abbiegen, meinte
Uli.
- Wir waren nicht die Einzigen,
die in diesem Frühjahr aufstiegen. Zwei Hirten mit ihren
Schafen, Eseln und Hunden hatten den gleichen Weg, jedoch
mehr Zeit. Ist noch zu früh, sagte einer.
Der 21. Mai, ein orthodoxer Feiertag, galt offiziell als
Tag des Almauftriebs in den Karpaten. Da der Winter sehr
viel Schnee brachte, ließen die Hirten ihre Tiere noch
im Schutz des Waldes weiden. Hier war das Gras besser als
auf den Almen, die um diese Jahreszeit noch deutlich
über der Schneefallgrenze lagen. Als es schon dämmerte,
suchten wir uns einen Platz zum Schlafen und bauten das
Zelt auf. Die Schäfer lagerten ein Stück weiter unten,
sie hatten kein Zelt, brauchten auch keins. Sie
entfachten ein Feuer, das vermutlich morgen noch brennen
würde und hüllten sich in ihren Tundra, den Schafspelz.
Die Schafe wärmten sich gegenseitig.
- Gegen Mittag des nächsten
Tages erreichten wir den ersten 2000-Meter-Sattel unserer
Tour, vor uns lag eine Stâna, eine Hirtenstation. Sie
war noch nicht in Betrieb. Schnee und Wolken bedeckten
den Godeanu-Gipfel, nachdem das Massiv benannt wurde. Ein
kalter Nordwestwind bließ uns entgegen, die Sicht war
trotzdem gut. Am Horizont reihten sich die
Schneebedeckten Gipfel des Retezat-Gebirges, dort wollten
wir hin.
- Wie würde es auf dem
Karpatenkamm Ende Mai aussehen? Würden wir durchkommen,
oder lag noch zuviel Schnee? Die beiden Fragen bewegten
mich schon Monate vor der Tour. Jetzt, als ich hier oben
stand und den Blick über den Hauptkamm bis zum Retezat
schweifen ließ, hatte ich meine Antwort. Bis auf
vereinzelte Schneefelder war der Kamm frei. Es müßte
klappen, vorrausgesetzt das Wetter schlug nicht um.
-
- Sturm
-
- Es schlug - hart, kräftig
und unter die Gürtellinie.
- Drei Forderungen stellte ich
in der Regel an einen Schlafplatz: windgeschützt, bequem
und Wasser sollte in der Nähe sein. Der heutige
erfüllte keine. Während ich das Zelt aufbaute, durfte
ich es nicht loslassen, der Wind hätte es geschnappt und
wir hätten es aus dem Cerna-Stausee fischen können. Um
sicher zu gehen, beschwehrte ich die Abspannschnüre und
den Rand mit Steinen. Es hatte eine leichte Schräglage,
so daß wir im Schlafsack immer wieder nach unten
rutschten und zum Kochen mußten wir Schnee schmelzen.
- Gegen Mitternacht wurde ich
wach, irgend etwas war anders als sonst. Ich hörte Uli
nicht mehr schnarchen - draußten tobte ein Sturm. Im
Abstand von wenigen Sekunden donnerte eine Bö nach der
anderen gegen die Breitseite des Zeltes. Das Gestänge
bog sich gefährlich unter der Wucht des Windes, jedesmal
tanzte der Nylonstoff über meiner Nasenspitze und auf
meinen Füßen lag etwas Schwehres. Ich trat gegen die
Zeltwand, Schnee rutschte nach unten, Kondenswasser
tropfte auf den Schlafsack. Ich blieb liegen und hoffte,
daß die Abspannungen hielten und ich nicht raus müßte.
Erst der obligatorische Druck im Dickdarm, trieb mich am
Morgen aus dem Schlafsack. Die Rucksäcke unter der Apsis
bedeckte eine fünf Zentimeter dicke Schneeschicht.
Draußen war alles weiß, wie im tiefsten Winter, der
Sturm tobte noch immer. Wir blieben im Zelt. Erst zum
Abend ließ der Wind etwas nach, in der Nacht war es
ruhig. Was sollen wir machen? fragte Uli. Da
keiner Lust hatte, sich noch einen Tag im Zelt zu
langweilen, einigten wir uns auf's weiterlaufen. Das war
falsch. Kaum hatten wir unsere Siebensachen in die
Rucksäcke gestopft und jeder etwas Müsli
runtergewürgt, ärgerte uns Zamolxis, der Dakergott, mit
neuen Sturmböen. Den Oberkörper nach vorn gebeugt,
stemmten wir uns gegen die Naturgewalten. Wir sahen
nichts. Oben und unten, vorn und hinten, links und rechts
alles weiß. Harte Eiskristalle stachen ins Gesicht und
verklebten die Nasenlöcher. Mein Rucksack wurde hin und
her gerissen, ich kam mir vor wie ein Testkörper im
Windkanal. Aber das Schlimmste war - wir hatten völlig
die Orientierung verloren. Das GPS funktionierte nicht,
irgend etwas hatte auf den Einschaltknopf gedrückt,
wärend es im Rucksack lag. Die Batterien waren leer.
- Über den Boden peitschte der
Sturm, hier das Zelt aufzubauen schien unmöglich, der
Wind hätte es in Fetzen gerissen. Vor etwa 200 Metern
passierten wir einen kleinen Geröllberg, dahinter
könnte man vielleicht Zelten. Wir liefen zurück,
glaubten es zumindest. In Wirklichkeit liefen wir nur im
Kreis. Jetzt nur nicht den Kopf verlieren,
sagte ich mir. Der Wind kam von Nordwesten, der Kamm lief
leicht nach Nordosten. Wir spürten den Wind auf der
linken Wange und auf dem Boden hatte er feine, scharfe
Grate in den Schnee geschliffen, zu denen wir im rechten
Winkel liefen. Wir müssen uns um 180 ° drehen, so
daß wir wieder im rechten Winkel zu den Graten laufen,
nur den Wind auf der rechten Wange spüren, rief
ich Uli zu. Es klappte, nach wenigen Minuten standen wir
auf dem Geröllberg.
- Uli buddelte Steine aus dem
Schnee, ich packte sie, als Ballast, auf den Zeltrand.
Wir krochen hinein, und wieder begann der langweilige
Rhytmus eines ungewollten Zeltaufenthaltes: essen,
schlafen, ab und zu rausgucken, obwohl nichts zu sehen
war, und im Hinterkopf quälten einen immer Gedanken,
wie: Hoffentlich hält das Zelt, aus denen
sich mit der Zeit die reinsten Horrorvisionen
entwickelten. Was tun wenn das Gestänge bricht
oder das Nylon reißt und alles selbstverständlich in
der Nacht. Unter diesen Bedingungen konnten wir
unsere Tour nicht fortsetzen, wir zogen die Rettungsleine
- morgen wollten wir absteigen.
- Der Schnee türmte sich früh
über einen Meter um unser Zelt, es stand jetzt
erdbebensicher. Eine drei Zentimerter dicke Eisschicht
umgab die Spannschnüre, und meine Schnürsenkel waren
gefroren.
-
- Der
Abstieg
-
- Ich bin so aufgeregt,
daß ich kotzen könnte, rief Uli. Ich hätte mein
Gefühl nicht treffender zum Ausdruck bringen können.
- Wir wählten für den Abstieg
die Nordseite, so weit wir einschätzen konnten, ging es
hier nicht so steil abwärts wie auf der Südseite.
Unsere Talfahrt ähnelte nicht im Geringsten den
Abstiegen, die ich aus Heldenepen à la Messner & Co
kannte. Durch knietiefen Schnee, teils stolpernd, teils
auf dem Hintern rutschend, bewegten wir uns talwärts.
Bald lagen die Wolken über uns, und wir sahen endlich,
wie es ringsherum aussah.
- Unter uns, in einem Kessel,
rauschte ein Gebirgsbach, von Osten kommend. Er vereinte
sich mit einem anderen Bach, der in mehreren Kaskaden
eine Nordwand zu unserer Linken hinunterstürtzte und
verschwand in einem Tal, das nach Norden führte. Wir
folgten dem Bach und stießen nach rund 3 Stunden auf
einen Kuhfladen. Das war ein gutes Zeichen. Hatten Hirten
ihre Kühe hier hoch getrieben, mußte es auch runter
gehen. Kaum begrüßten uns die ersten Tannen und
Fichten, entdeckten wir einen Pfad, der uns zu einer
Hütte mitten im Wald führte. Innen stapelten sich
Holzscheite, die Kochecke war mit Steinplatten ausgelegt,
ein Loch im Dach diente als Rauchabzug und auf einem
Reisiglager konnten 3 bis 4 Personen schlafen. Vermutlich
diente die Hütte den Hirten während des Almauf- bzw.
Abtriebs als Unterkunft. Wir konnten uns aufwärmen und
unsere Sachen trocknen. Das Zelt glich einem
eingeweichten Wischtuch. Ich spannte ein Stück Schnur
zwischen zwei Fichten und hing es drüber. Made by
Carin Karlsson, laß ich auf einem Schildchen unter
der Apsis. Ich hätte Carin am liebsten einen Brief
geschrieben. Ihr Zelt hatte uns nicht im Stich gelassen,
saubere Arbeit, vielen Dank Carin.
- Später erzählte mir ein
Rumäne, daß zur gleichen Zeit zwei Wanderinnen im
Bucegi Massiv erfroren sind.
- Uli legte inzwischen Feuer.
Der Rauchabzug wollte nicht richtig arbeiten, der Qualm
entwich aus allen Ritzen in den Wänden. Wir fühlten uns
wie Aal in der Räucherkammer.
- Einen halben Tag lang mußten
wir uns noch durchs Gestrüpp kämpfen, über Baumstämme
klettern und von einem Wildwechsel zum nächsten
stolpern, ehe uns Hirsch- und Bärenspuren zu einem von
Ceausescus Energieprojekten führten.
- Der Gura Apei-Stausee ist
eine Baustelle, obwohl auf meiner zehn Jahre alten Karte,
bereits als fertig eingezeichnet. Trotzdem taugte der
blaue Fleck, um sich zu orientieren und ein neues Ziel
abzustecken. Das Retezat-Gebirge mit seinen 2500 Meter
hohen Gipfeln dürfte für mindestens eine Woche allein
den Gemsen gehören.
- Wir entdeckten einen anderen
Punkt. Vom Stausee führt eine Straße nach Hateg,
östlich der Stadt erstreckt sich das Sureanu-Gebirge und
mittendrin, auf dem Gradesti Berg 1200 Meter über dem
Meer, liegt die alte Hauptstadt der Daker -
Sarmizegetusa.
-
- Sarmizegetusa
-
- 44 v. Chr.; mit seinem Tod
hinterließ König Burebista den Dakern ein Reich, das
sich von der heutigen Tschechischen Republik bis
Bulgarien erstreckte. Über dieses Reich zu herrschen, es
zu vergrößern und gegen Feinde zu verteidigen oblag
seinem Nachfolger - Decebal. Feinde hatte er mehr als ihm
lieb war, sie hockten bereits in halb Europa - die
Römer.
- Etwas mochten die Cäsaren
überhaupt nicht: einen starken, kriegerischen Nachbarn,
der ab und zu ihre Legionen verdrosch und noch dazu über
ein Land herrschte, das Gold besaß. Der Streit war
vorprogrammiert und eskalierte im Jahre 106, als Trajan
mit seinen Legionen gen Norden über die Karpaten zog,
die Daker schlug, und das Land als Provinz Dacien dem
römischen Reich einverleibte. Die Hauptstadt der Daker,
Sarmizegetusa, wurde zerstört und geriet in
Vergessenheit.
- Das Erste auf das wir
stießen, war eine Mauer, mit Moos bewachsen und recht
gut erhalten. Sie schützte die Menschen im Zentrum des
Ortes mit seinen Wohnhäsern, Tempeln und Heiligtümern.
Jetzt übernimmt den Schutz ein Wächter, sein Hund und
die UNESCO. Jeden Tag kommt der Mann vom Weiler Gradistea
de Munte die 8 km auf den Gradestii-Berg, im Sommer mit
dem Rad im Winter auf Skiern. Er zeigte uns Reste der
Kanalisation, Steine auf denen die Daker ihren Göttern
Zamolxis und Gebeleizis Opfer darbrachten, sowie
Säulenstümpfe, die wie Pilze aus dem Boden ragen und
vermutlich als Kalender benutzt wurden. An einer
Böschung hockte er sich hin und klaubte etwas aus dem
Dreck, streckte uns seine Hand entgegen, dort lagen etwa
ein Dutzend verkohlte Weizenkörner - fast 2000 Jahre
alt.
- Ein Gewitter beendete unseren
Besuch in Sarmizegetusa. Die gesamte Siedlung zu
besichtigen wäre sowieso unmöglich, sie erstreckt sich
immerhin über eine Fläche von 150 Quadratkilometer.
Selbst auf den benachbarten Bergen fanden Wissenschaftler
Gebäudereste.
-
- Das
Retezat-Gebirge
-
- Laut Plan müßten die
Südkarpaten bereits Geschichte sein, stattdessen
schleppte ich mich den Südhang des Retezat-Gebirges
hinauf.
- Zwei Dinge fehlten: der
Schnee (geschmolzen) und Uli (zu Hause).
- Ich saß vor einem Tümpel im
Plaiu Mic-Sattel, spülte meinen Nudeltopf und im Kopf
wirbelten die letzten Tage durcheinander. Zwei Wochen
dauerte unsere Zwangspause. Wir wurden vom Regen
eingeweicht, besuchten Freunde und einige Klöster in der
Bukowina, die mir immerhin das Gefühl gaben, die Zeit
nicht sinnlos vergeudet zu haben. Zwei Wochen, das
entsprach einer Strecke von fast 300 Kilometer, die ich
weiter im Osten sein müßte. Doch wo war ich? Ungefähr
einen halben Tag von der Stelle entfernt, wo uns der
Sturm davonjagte. Ab jetzt mußte alles wie am
Schnürchen laufen, ging noch einmal etwas daneben,
würde ich die Donau im Herbst nicht mehr sehen.
- Der Nudeltopf blitzte
inzwischen, meine Hände ebenfalls. Ich steckte sie in
die Taschen meiner Fleecejacke und suchte die beiden
höchsten Berge des Retezat-Gebirges; Vârful Peleaga
(2509 m) und Vârful Papusa, die Puppe (einen Meter
kürzer), drängelten sich am Horizont. Den Namensgeber
des Gebirges, Vârful Retezat, konnte ich von hier oben
nicht entdecken. Eigentlich war er nicht zu übersehen,
als nördlicher Eckpfeiler des wissenschaftlichen
Reservats Gemenele erinnert der Berg an einen
Haremswächter. Und wie jenem fehlt auch ihm das
Wichtigste - der Gipfel. Die Hirten gaben ihm deshalb
auch den passenden Namen: Retezat, auf deutsch -
abgeschnitten.
- Das 1630 Hektar große
Reservat Gemenele ist Teil des Retezat Nationalparks, es
wird von der rumänischen Akademie der Wissenschaften
betreut und ist für den gemeinen Wanderer tabu.
- Am 22. März 1935 wurde der
Nationalpark Retezat gegründet, der erste Nationalpark
Rumäniens. Auf einer Fläche von 540 Quadratkilometern
beherbergt der Park die meisten 2000er, sowie die meisten
Gebirgsseen der Karpaten, Meeraugen genannt,
Überbleibsel abgeschmolzener Gletscher der letzten
Eiszeit. Der größte unter ihnen heißt Bucura, was
sich freuen bedeutet. Die Sonne tat's
ebenfalls, rund und hell lachte sie mich an und auch ich
war zufrieden, immerhin hatte ich für die Etappe
wesentlich mehr Zeit veranschlagt. Vor einer Hütte, die
dem Salvamont (rumänische Bergwacht) gehörte, fädelte
ich mich aus dem Rucksack, setzte mich und stopfte ein
paar Brotkrümel in den Mund. Auf einem Zettel, der mit
einem Messer an die Tür genagelt war, stand: Bin
bei der Buta-Hütte. Gestern kam ich dort vorbei,
an die Hütte erinnerte nur noch ein verkohlter Haufen
Holz.
- Gewöhnlich brennen die
Berghütten in den Karpaten über Silvester ab, die
Buta-Hütte hat es später erwischt. Der Grund war
vermutlich der gleiche, die Lieblingsbeschäftigung der
Rumänen - Feuer machen. Selbst auf dem Fagaras-Kamm, wo
es außer getrocknetem Schafsmist nichts gibt, was
brennen würde, begegneten mir Wanderer mit Äxten im
Gepäck.
- Die nächsten Stunden waren
anstrengend. Über einen schmalen Grat und lockere
Geröllbrocken kraxelte ich auf den höchsten Berg im
Retezat, den Peleaga. Es war mein erster 2500-Meter-Berg.
Zweitausendfünfhundert Meter, das sind für die Karpaten
schon eine beachtliche Höhe, wenn ich mir überlege,
daß der höchste Berg, die Gerlsdorfer Spitze in der
Hohen Tatra, 2655 m mißt.
- Oben angekommen teilte ich
den Platz neben dem Steinmann, der den Gipfel markierte,
mit einer Gruppe Tschechen. Ihnen kam ich sehr gelegen,
durfte ich doch gleich von allen ein Gipfelfoto machen.
Ich blieb noch ein Weilchen auf dem Gipfel und sah den
Tschechen beim Abstieg zu, als sie zu winzigen bunten
Punkten geschrumpft waren, stieg ich auch nach unten.
Über das Valea Rea-Tal ging es zum Gales-See. Laut Uli
sollte es dort von Forellen nur so wimmeln. Das Einzige
was wimmelte waren kleine schwarze Fliegen, nicht mal ein
mickriger Stichling zeigte sich. Bei dem Namen kein
Wunder, Lacul Galesul hieß der Schmachtende See. Ich
holte meinen Juwel-Kocher raus und machte Wasser heiß
für einen Tee.
- Morgen würde ich das Gebirge
verlassen. Aber auf welchem Weg? Es gab zwei
Möglichkeiten: Über die Baleia-Hütte nach Lupeni und
weiter nach Petrosani oder über die Pietrele-Hütte nach
Ohaba de sub Piatra. Von Lupeni aus hatte ich es näher
zu meinem nächsten Abschnitt, dem Parâng-Gebirge.
Allerdings ereilte die Baleia-Hütte das gleiche
Schicksal wie die Buta-Hütte. Von Ohaba war es zwar
weiter bis zum Parâng, dafür gab es in der
Pietrele-Hütte sicher Bier. Ich entschied mich für das
Bier. Von Ohaba bis Petrosani könnte ich mit der Bahn
fahren.
- Inzwischen kochte das Wasser,
ein Teil der Fliegen war in den Topf gefallen und
ersoffen. Ich hing die Teebeutel dazu und beobachtete wie
das Wasser langsam die Farbe wechselte. Auch der Himmel
verfärbte sich, anfangs goldgelb später orangerot. Die
Bergspitzen glühten ein letztes mal auf, dann war es
finster.
- Am nächsten Mittag um halb
zwölf erreichte ich die Hütte. Ich bekam mein Bier und
hockte mich unter ein Schild auf dem stand, daß Campen
am Gales-See verboten sei und mit 50 000 Lei bestraft
werden konnte. Das galt vermutlich nur für Einheimische,
dachte ich mir. Einem Ausländer hätte man sicher
Devisen abgekönpft oder den Kopf abgerissen. Ein
schlechtes Gewissen hatte ich nicht.
- Zum Glück brauchte ich nicht
den ganzen Weg bis Ohaba laufen, kurz vor einem Dorf, das
Nucsoara hieß, hielt ein gelber Dacia. An der
Bahnstation in Ohaba wurde ich abgesetzt, wo mir der Zug
nach Petrosani vor der Nase wegfuhr.
-
- Das
Parâng-Gebirge
-
- Sie können dort unten
am Fluß ihr Zelt aufbauen, sagte die Dame von der
Bahnstation. Dort finden sie auch schon
Feuerstellen. Suchen sie sich den besten Platz aus.
Ich fand ihn zwischen Bahndamm und Strei-Fluß, glaubte
es zumindest. Das meine Wahl ziemlich ungeschickt
ausfiel, merkte ich gegen Mitternacht. Es krachte einige
Male, Tropfen und Hagelkörner rollten die Zeltwand
runter und um mich herum schossen Blitze nieder, daß es
im Zelt taghell wurde. Damit konnte ich leben, ersparte
mir das lästige Suchen nach der Taschenlampe, wenn ich
wissen wollte, wie spät es war. Als der Regen nach zwei
Stunden stärker wurde, fing ich an, mir Sorgen zu
machen. Ein Gedanke biß sich penetrant in meinem Hirn
fest: So ein Fluß könnte sich ja innerhalb kurzer Zeit
in einen reißenden Strom verwandeln. Gespannt lauschte
ich dem Rauschen des Wassers, suchte schließlich doch
die Lampe und schaute jede halbe Stunde nach draußen.
Zum Glück dachte der Strei überhaupt nicht daran, sein
Bett zu verlassen und bald darauf ließ auch der Regen
nach, nicht jedoch der Zugverkehr auf der anderen Seite.
Immer wenn einer auf meiner Höhe war, vibrierte die
Isomatte.
- Noch etwas benommen kletterte
ich am nächsten Morgen in den Zug nach Petrosani. Im
Abteil saßen Bauern mit ihrer Feldhacke, ein Soldat
starrte aus dem Fenster und mir gegenüber saß eine Omi,
auf ihren Knien stand ein Karton in dem es piepste.
Küken die sie auf dem Markt in Petrosani verkaufen
wollte. Ab und zu steckten bettelnde Zigeuner den Kopf
durch die Tür, klimperten mit ein paar Münzen oder
zeigten die mit Geschwüren bedeckten Arme und Beine.
Verschwanden jedoch meistens ohne Leis, um ihr Glück im
Nachbarabteil zu versuchen, bis sie der Schaffner an der
nächsten Station rausschmiß. Im Gang standen die
Raucher, blaugrauer Dunst der Marken Snagov und Carpati
sammelte sich unter dem Dach. Das Beste aber war die
Toilette, auf dem Brillenrand klebte die Ladung meines
Vorgängers und auf dem Boden gärte der Urin einer
Generation Reisender. Für Frischluft während der Fahrt,
sorgte die geöffnete Wagontür.
- Nach zwei erfolglosen
Versuchen, in einer Bank Geld zu tauschen, verließ ich
Petrosani auf der Nationalstraße 7A, in Richtung
Parâng-Gebirge. Ich brauchte den ganzen Tag um nach oben
zu kommen und war stolz, mancher schaffte es sein Leben
lang nicht.
- Unterhalb eines Gipfels der
Parângul Mic hieß, traf ich Christie mit seinem Vater,
200 Schafen und 5 Karpatenschäferhunden. Genaugenomen
machte ich mit den Hunden zuerst Bekanntschaft. Kläffend
und mit gefletschten Zähnen stüzten sie auf mich los,
stoppten ein paar Meter neben mir und begleiteten mich
runter zu den Hirten. Erst ein Hagel von Flüchen, die
ich nicht verstand und ein Hirtenknüppel schien sie
davon zu überzeugen, daß ich weder Bär noch Wolf war
und auch keine Schafe klauen wollte. Die 200 Schafe
gehörten Christies Vater und darauf war er stolz.
Die meisten Hirten in den Karpaten sind nur
angestellt, sagte er. Die Schafbesitzer holen
bloß den Käse, um ihn auf dem Markt zu verkaufen.
- Du willst hier oben
zelten?! Christie wollte es kaum glauben.
Gestern hatten wir einen Hagelsturm, der uns fast
vom Kamm fegte, bestätigte sein Vater. Als die
beiden merkten, das es mir mit dem Zelten ernst war,
führten sie mich zu einer kleinen Mulde an der Südseite
des Berges. Hier ist es nicht so windig,
sagte Christie. Während ich das Zelt aufstellte,
überschüttete er mich mit Fragen. Ist das Zelt
wasserdicht? Hält es dem Wind stand?
Aus welchem Material ist das Gestänge? Das
es aus Aluminium war, wollte er mir nicht recht abnehmen.
Wie und was soeiner wie ich im Gebirge aß, interessierte
ihn natürlich ebenfalls. Ich holte meinen Kocher raus
und machte wieder mal die Spezialität des Hauses -
Spagetti und Tütensuppe.
- Die Suppe misriet mir,
...in 1/2 Liter kaltes Wasser einrühren...,
stand auf der Verpackung - meins kochte bereits 5
Minuten.
- Christie konnte ich nicht
überzeugen mit mir zu abend zu essen. Sein Vater zeigte
mir den Weg, den ich morgen gehen müßte. Wenn das
Wetter schlechter wird, kannst du zu uns in die Stâna
kommen sagte er zum Abschied. Dann verschwanden sie
mit der Herde in den aufziehenden Wolken. Nur einer der
Hunde leistete mir noch Gesellschaft. Als es dunkel
wurde, trollte auch er sich. Leider wurde das Wetter
nicht schlechter, ich hätte sonst was drum gegeben, eine
bewirtschaftete Hirtenstation von innen zu sehen.
- Die meisten
Zweieinhalbtausender auf der Tour waren stattliche Berge,
die mir ordentlich den Schweiß aus den Poren trieben.
Parângul Mare, war eine Enttäuschung. 2518 Meter laß
ich auf einem Blechschild, das den Gipfel markierte und
kam mir veralbert vor. Ohne dem Schild, hätte ich es gar
nicht mitbekommen, aber ich stand auf dem fünfthöchsten
Berg der rumänischen Karpaten. Der von Süden und Westen
sanft ansteigende Grashaufen fiel nach Norden steil ab,
und das ganze Massiv tat es ihm nach. Meine Schuhe
rutschten über glatte Steine, stolperten über
tiefliegende Äste von Latschenkiefern und stoppten
abrupt an einer Stelle, die aussah, als ob jemand mit
einer Handvoll Wald Mikado gespielt hatte.
- Die Lawine hatte eine
Schneise von etwa 60 m in den Wald geschlagen. Das
Wirrwarr endete in einem Bachbett, genau an der Stelle wo
der Pfad den Bach überquerte. Von einem Steg gab es
keine Spur mehr. Unglücklicherweise war der Bach zu
breit, um drüber zu springen und zu reißend, um
durchzuwaten. Ich lößte das Problem, indem ich mich
rittlings über einen Baumstamm schob, der von meinem
Ufer bis zur Mitte des Baches ragte. Dort war er
abgebrochen, aber nebendran, etwas tiefer, lag das Ende
eines zweiten Stammes, der auf die andere Seite führte.
Es war nicht einfach von einem Baumstamm auf den anderen
zu kriechen. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge auf
einer Wippe, wenn man oben hockt und mit den Beinen in
der Luft rudert, weil auf der anderen Seite Zwei sitzen,
um einen nicht runter zu lassen. Drüben angekommen,
ähnelte ich einem gefoulten Fußballspieler. Die Knie
waren dreckig, das linke Schienbein blutete und in die
Hose hatte ich mir ein Loch gerissen.
-
- Das
Lotru-Gebirge
-
- Ich erweckte somit nicht den
besten Eindruck, als ich die Cabana Obârsia Lotrului
betrat. Dennoch bekam ich mein Bier. Das entschädigte
mich für die Plackerei der letzten Stunden und machte
den Aufstieg ins Lotru-Gebirge leichter.
- In mühevoller Kleinarbeit
sammelte ich auf meinen früheren Rumänienreisen jede
Wanderkarte, die mir in die Hände fiel. Die Folge war,
ich besaß von fast jedem Massiv in den Südkarpaten eine
Karte. Es fehlte nur eine - das Lotru-Gebirge. Den
Aufstieg zeigte noch meine Parâng-Karte, er war mit
rotem Kreuz markiert. Mit dem Kartenende endete auch die
Markierung, tauchte ab und zu noch mal auf und verschwand
schließlich gänzlich.
- Ich schob mir einen
Power-Riegel zwischen die Zähne, lief querfeldein durch
Tannen, Fichten, Farn und Wacholderbüsche und landete
auf einer Forststraße, an der drei Häuser standen. Eins
schien bewohnt, ich hörte Hundegebell, das zweite war
ein Stall, das dritte war nur noch Atrappe. Hinter der
halbgeöffneten Tür des Stalls stand eine Kuh, die von
einem Jungen gemolken wurde. Ich erfuhr, daß dieser Ort
der Weiler Steflesti sei und der nächste Weg auf der
linken Seite ins Cibin-Gebirge führt.
- Das Lotru-Gebirge endet im
Tal des Olt, neben der Donau, der einzige Fluß, der die
Karpaten durchbricht. Von dort hätte ich ins
Fagaras-Gebirge aufsteigen können. Da sich jedoch mein
Nudelvorrat dem Ende neigte, wählte ich den Weg übers
Cibin-Gebirge. Ich verjagte die Kribbelmücken von meinen
Handgelenken und lief los nach Sibiu, der Hauptstadt
Transsilvaniens.
-
- Der
Unfall
-
- Dunkelgraue Gewitterwolken
sammelten sich hinter der Röm.-kath. Kirche, kurz darauf
trommelten die ersten Tropfen an die Fensterscheiben
meines Zimmers am Piata Mare, im Zentrum von Sibiu. Ich
humpelte zurück zum Bett, es war hart und zerbeult wie
eine transsilvanische Dorfstraße. Porcule, der
Hauskater, hatte mir soeben mein letztes Stück
Hermannstädter Salami geklaut. Mir wollte es noch immer
nicht in den Kopf, draußen tobte das Leben und ich
sollte meine Tour nicht mehr fortsetzen können.
- Vorgestern Mittag: ich lehnte
meinen Rucksack an den Pfahl eines Wegweisers und nagte
an einem Schokoriegel. Der Gipfel des Cindrel spendete
Schatten, die Sonne zeichnete Lichtreflexe auf den
Iezerul Mare-See, tief unter mir. Trotz des Sommerwetters
wehte ein frischer Wind, der mir zu sagen schien
Loß beweg dich! Pause kannst Du woanders
machen. Ich folgte seinem Rat, packte den Rucksack
und wollte ihn mit einem heldenhaften Schwung auf meinen
Rücken befördern, blieb mit der Unterkante des
Rucksacks an der Kniescheibe meines rechten Knies hängen
und riß mir diese nach oben. Ein stechender Schmerz
bohrte sich bis ins Mark. Der Rucksack fiel zu Boden, ich
folgte ihm. Es dauerte eine Weile bis mir klar wurde, was
passiert war. Das man sich beim Aufheben des Rucksacks
außer Gefecht setzen konnte, hätte ich noch vor wenigen
Sekunden für Unsinn gehalten. Nun half auch alles
Schimpfen und Fluchen nichts, ich hatte mich angestellt
wie ein Idiot, ein Anfänger, einer der noch nie in den
Bergen war. Und klatsch, schon hatte ich
meine symbolische Ohrfeige bekommen. Vorsichtig tastete
ich das Knie ab, versuchte es zu beugen, es klappte. Auf
meine Stöcke gestützt rappelte ich mich auf und ging
ein paar Schritte. Wenn ich das Bein nicht zu stark
belastete, konnte ich laufen. Bis Paltinis waren es etwa
6 Stunden, ich wollte laufen soweit es ging.
Hierzubleiben und abzuwarten hielt ich nicht für
sinnvoll, wenn sich mein Zustand verschlechtern würde,
käme ich überhaupt nicht mehr weiter. Schritt für
Schritt humpelte ich Richtung Paltinis, von dort konnte
ich mit dem Bus nach Sibiu fahren . Mein Knie ähnelte
mittlerweile einem gefüllten Wassersack.
-
- In
Sibiu
-
- Jetzt saß ich im
Gästezimmer von Elena, einer Dame Anfang 60, die mit
ihrem Sohn Nicu und bereits erwähntem Porcule, in einem
Haus am Großen Platz in Sibiu wohnte. Wenn sich die
Gelegenheit bot, vermietete sie ein Zimmer an Touristen,
da sie neben ihrer Familie auch das Geld liebte.
Neugierig schaute ich zu, wie mir Dr. Ciorteach, ein Mann
Ende Fünfzig, zum siebenten Mal eine Flüssigkeit mit
dem Namen Boicil Forte ins Knie spritzte. Acht
Wochen sollten Sie das Knie nicht belasten, sagte
der Doktor während er die Nadel herauszog. Ich glaubte
nicht richtig zu hören. Da hätte man mir auch Geld und
Papiere stehlen können, es wäre nicht deprimierender
gewesen. In zwei Wochen kommen Michael und
Hans-Jürgen,zwei Freunde, nach Brasov, um mich für ein
paar Wochen auf meinem Trip zu begleiten. Im Moment sah
es nicht so aus, ob ich überhaupt noch mal einen Fuß in
die Berge setzten würde.
- Nach einer knappen Woche war
die Schwellung fast verschwunden, nur mit dem Laufen
klappte es noch nicht richtig. Es tat noch weh. Der Artzt
war trotzdem zufrieden und brauchte nur noch jeden
zweiten Tag zu kommen, um mir Spritzen zu geben. Es
ist ein guter Artzt, bemerkte meine Vermieterin.
Es gibt nur drei Ärtzte in Sibiu, die sowas
behandeln können. Du hattest Glück, daß Du nicht ins
Krankenhaus mußtest. Dann erzählte sie mir, wie
es in Rumäniens Krankenhäusern zugeht. Über eine
Pflichtversicherung, wie in Deutschland, wird in
Rumänien zwar geredet, aber noch gibt es sie nicht. Nur
Rentner haben eine Teilversicherung, die 75 Prozent der
Kosten trägt. Jeder andere zahlt den Aufenthalt im
Krankenhaus aus eigener Tasche, und man läßt ihn sich
gut bezahlen. Die Löhne sind gering, ein Artzt verdient
etwa 100 Dollar im Monat - Korruption steht an der
Tagesordnung vom Chefartzt bis zur Putzfrau. So kümmert
sich das Pflegepersonal nicht ordentlich um die
Patienten, macht z.B. nicht sauber, wenn ihm nicht hin
und wieder etwas Geld zugesteckt wird. Verpflegt werden
die Patienten meist von ihren Angehörigen. Und wer nicht
zahlen kann, wird nicht behandelt, lediglich Erste Hilfe
ist kostenlos.
- Tag für Tag schlich
vorüber, am Vormittag kam der Doktor und malträtierte
mein Knie, nachmittags schaute ich dem Treiben der Leute
zu. Meistens schien die Sonne, das ärgerte mich. Die
Eisverkäuferin unter meinem Fenster machte gut Umsatz.
Kinder bettelten die Passanten an, holten ab und zu die
Geldscheine aus der Hosentsche und zählten ihre
Einnahmen. Zigeunerinnen verkauften Holzlöffel an
Touristen. Ein Mann, dem die Beine fehlten rutschte über
den Platz, sein Rollstuhl war ein Brett mit vier Rädern.
An der Hauswand gegenüber stand ein Mönch und popelte
in der Nase, auch er wollte Geld und im Radio faselte
Stargast Clinton irgendewas von Freiheit und Demokratie,
die Rumänen klatschten Beifall wie zur Ära Ceausescu.
- Nach elf Tagen bekam ich
meine letzte Spritze, Doktor Ciorteach nickte zufriden
mit dem Kopf, ich konnte wieder in die Berge.
- Insgesamt war ich nun über
einen Monat im Rückstand, die Tour würde ich nicht mehr
wie geplant beenden können. Ich entschloß mich
schwehren Herzens auf den slowakischen Teil der Karpaten
zu verzichten. Der Aufenthalt in Sibiu hatte auch ein
gewaltiges Loch in meine Reisekasse gerissen. Dem Artzt
zahlte ich 80 Mark, das war in Ordnung. Für die
Unterkunft zahlte ich fast 500 Mark, das war eine
Katastrophe.
-
- Karpatenhirten
-
- Die Tüchtigsten aber
erbauen im Gebirge Sennhütten. Dort verweilen Sie mit
Gott und der Einsamkeit, bis der Tag kürzer wird.
schrieb der rumänische Schriftsteller Mihail Sadoveanu
in seinem Werk Baltagul.
-
- Nicu kannte einen Hirten in
Casolt, einem Dörfchen östlich von Sibiu. Wir wollten
ihn besuchen, mein Wunsch eine Stâna von innen zu sehen
erfüllte sich doch noch.
- Das grünliche, kalte Licht
der Straßenlampen ergab mit dem warmen, gelben Licht,
aus den Fenstern der Häuser eine eigenartige Mischung.
Auf einigen Höfen bellten Hunde und Siluetten der
Pferdekarren holperten durch die zerfurchte Straße, das
Dorf erwachte. Mollige Wärme schlug mir entgegen, als
ich den Kuhstall betrat. Ghita war gerade mit dem Melken
der Kühe beschäftigt, seine Frau half ihm bei der
Arbeit. Der Stall war schmal, ein paar Glühlampen
spendeten schummriges Licht, an der Wand, über den
Köpfen der Kühe hingen Bildchen der Schutzheiligen,
damit den Tieren kein Unglück wiederfahre. Zwölf Kühe
besaß Ghita, doch in erster Linie war er ein Pacurar -
ein Schafbesitzer.
-
- Seine 500 Schafe weideten auf
60 Hektar Bergwiesen hinter dem Dorf. Wir müssen
uns beeilen, sagte Ghita. Die Schafe werden
jetzt auch gemolken. Wir kletterten mit Nicolai,
seinem Bruder, in den Geländewagen und schaukelten in
die Berge. Ghita gehörten 10 Hektar Land, den Rest
mußte er pachten, für 50 Mark im Jahr je Hektar.
Nicht jedes Stück Weideland ist für die
Schafhaltung geeignet, erzählte Ghita. Du
brauchst Wasser und vor allem Schatten. Gegen Hitze sind
die Tiere sehr empfindlich; mindestens vier Stunden am
Tag müssen die Schafe in den Shatten, so von 12.00 bis
16.00 Uhr.
- Von einer Herde war noch weit
und breit nichts zu sehen, als den Wagen sechs
Hirtenhunde attakierten. Jeder trug ein stachliges
Halsband, als Schutz gegen Wölfe und zwischen den
Vorderbeinen tanzte ein etwa 20 cm langes, daumendickes
Rundholz. Was zum einen die Hirtenhunde als solche
kennzeichnete und zum anderen sie daran hindern sollte,
schnell zu laufen und sich irgendwo zu verbeißen. Als
sie den Boss erblickten herrschte augenblicklich Ruhe.
Ein Hund blieb bei uns, der Rest trollte sich zurück zur
Herde.
- Auf meine Frage was so ein
Hund kostet, antwortete Ghita: Ein guter Hirtenhund
ist unbezahlbar. Kein Hirte würde je einen guten Hund
hergeben. Der da ist nicht mal zwei Schnaps wert,
sagte Ghita lachend, indem er auf den Hund wieß, der
neben ihm saß und sich mit der Hinterpfote am Ohr
kratzte. Zum Glück gibt es in der Gegend keine
Bären, nur ab und zu Wölfe, da reichen sechs Hunde.
Sonst brauchte ich doppelt so viele. Auch mit den Wölfen
hatten wir noch nie Probleme - Gott sei dank. Ein Wolf
kann, wenn er will, 100 Schafe töten. Der Bär nimmt in
der Regel eins, höchstens zwei. Bei uns gibt es noch
keine Versicherung, mit einem Schaf verliere ich auch ein
Lamm und natürlich Käse. Das sind - Ghita überlegte -
etwa 150 Mark. Wenn ich Glück habe, kann ich noch die
Haut verkaufen. Aus Schafleder werden Jacken, Taschen
oder ähnliches gemacht.
-
- Wir näherten uns einem
Pferch in dem sich die Schafe gegenseitig auf die Füße
traten. Sie wurden gerade gemolken. Von den vier Ciobani
(Schafhirten), die bei Ghita arbeiteten, waren drei mit
dem Melken der Tiere beschäftigt. Einer stand im
Schafpferch und trieb die Tiere zu zwei Öffnungen in
einem Bretterverschlag, dem Comarnic. Dahinter saßen
zwei Hirten. Sobald die Köpfe der Schafe sichtbar
wurden, packten die Männer zu und zogen die Schafe durch
die Öffnungen, jeder klemmte sein Schaf zwischen die
Knie und fing an es zu melken. Alles dauerte nur wenige
Sekunden. Früh, meist vor Sonnenaufgang, und am Abend
werden die Schafe im Sommer gemolken, manchmal auch noch
ein drittes Mal. Ein Schaf gibt jetzt etwa einen bis zwei
Liter Milch am Tag. Im Frühling und Herbst ist es
weniger.
- Als alle Tiere gemolken
waren, trieb sie ein Hirte wieder auf die Weide. Der
andere nahm die Milch und wir gingen zusammen zur Stâna,
um Käse herzustellen. Käse ist das einzige Produkt, was
die Hirten auf dem Markt verkaufen. Für den Eigenbedarf
machen sie auch ab und zu Butter oder gesäuerte Milch
zum Trinken. Einmal im Jahr, meistens im Mai, werden die
Schafe geschoren. Die Hirten erledigen diese Arbeit
selbst, ein Schafscherer würde pro Schaf genausoviel
kosten, wie der Hirte für ein Kilo Wolle bekommt. Die
Wolle spielt keine große Rolle als Verkaufsprodukt. Ein
Teil geht in die Türkei, der Rest bleibt im Land. Die
Frauen in den Dörfern trocknen, waschen und färben die
Wolle, anschließend fertigen sie Kleidung für den
Alltag, Wandteppiche für die eigene Wohnung oder für
Touristen und selbstverständlich auch den Tundra - den
klassischen Schafspelz der Hirten, mit dem die Schäfer
Regen, Hagel und Schnee in den Bergen trotzen.
-
- In der Stâna angekommen,
schüttete der Hirte die Milch in einen Kessel, hing ihn
übers Feuer und rührte mit einem Stab, damit sich die
Milch gleichmäßig erwärmte. Um Käse zu machen,
muß die Milch etwa 35 °C haben, erklärte er.
Dann nahm er den Kessel, trug ihn in die Hütte und gab
einen Schluck Lab, das Ferment zur Käsebildung, dazu.
Zum Abschluß warf der Mann einen Hirtenpelz über den
Kessel, um die Temperatur zu halten. Jetzt würde es etwa
eine Stunde dauern, dann ist der Käse fertig. Fünf
Liter Milch ergeben rund ein Kilo Käse - Telemea
genannt. Ich erfuhr, daß es vier Käse-sorten gibt:
Brânza de Cas, Brânza de Telemea, Brânza de Urda und
Brânza de Burduf. Letzterer aber wird nur aus der Milch
guter Bergschafe erzeugt, da diese Milch den höchsten
Fettgehalt hat. Es ist auch der Teuerste, auf dem
Markt kostet das Kilo knapp 10 Mark, sagte Ghita.
Er mußte es wissen. Jeden Tag holen Ghita oder sein
Bruder Nicolai den fertigen Schafskäse und verkaufen ihn
auf dem Markt in Sibiu. Ghita gehört zu den Hirten, die
von ihrer Arbeit noch gut Leben können. Da er in der
Nähe von Sibiu lebt, kann er die Transportkosten von der
Stâna zum Markt in der Stadt gering halten. Mit seinem
Auto ist er auch wesentlich schneller, und vor allem
täglich auf dem Markt präsent. Im Gegensatz zu den
Hirten in den abgelegenen Bergregionen. Für sie wird das
Geschäft mit dem Käse immer unrentabler. Nur ein- bis
zweimal in der Woche kommen Fahrer (meist
Schwarzarbeiter) die ihren Käse abholen. Die
Angestellten in den Bergen verdienen etwa 50 Mark im
Monat, das liegt rund zwei Drittel unter dem
Durchschnittslohn in Rumänien. Die Folge ist, immer
weniger Menschen besitzen immer größere Herden und
viele einst selbständige Hirten lassen sich bei einem
1000-Schaf-Besitzer anstellen.
- Fahr nach Poiana
Sibiului, sagte Nicolai. Und du lernst die
High Society unter den Schafbesitzern kennen. Bereits
unter Ceausescus Zeiten basaßen diese soviel Geld, daß
sie nicht wußten wohin damit.
- Der Staat importierte Schafe
aus Neuseeland und Australien, um sie für rumänische
Verhältnisse zu züchten. Nach einer Fernsehreportage
über die Schafhaltung in Australien, wo die Tiere mit
Helikoptern zusammengetrieben wurden, stellte ein
Schafbesitzer aus Poiana Sibiului bei Ceausescu einen
Antrag. Er wollte auch einen Helikopter kaufen -
natürlich ohne Erfolg.
-
- Erstaunlicherweise wurden die
Eigentumsverhältnisse der Hirtenmillionäre während der
Diktatur der Kommunisten so gut wie nicht angetastet. Es
gab lediglich Verträge, die die Hirten verpflichteten
ihre Produkte an den Staat zu verkaufen. Dieser bestimmte
auch wieviel gezahlt wurde. Außerdem gehörte das
Weideland in der Regel dem Staat, so daß die Pacht der
Hirten ebenfalls das Staatssäckel füllte. Wer wenig
Schafe besaß, war schlechter dran. Er mußte seine Tiere
Genossenschaften überlassen. Nach der Revolution holte
jeder sein Eigentum zurück. Dadurch ist heute die
Konkurrenz zwar größer, die Preise aber sind frei.
- Während der Käse im Kessel
reifte, hockte sich Ghita ans Feuer und begann Mama-liga
zu kochen - das Grundnahrungsmittel der Hirten. In einem
Topf brodelte bereits Wasser, Ghita schüttete Maisgries
dazu und fing an zu rühren, bis sich in dem Topf ein
zäher gelber Brei bildete. Mit Schwung stülpte er den
Topf um und balancierte den dampfenden Teigklumpen zu
einem Holztisch vor der Stâna. Mit einem Bindfaden
schnitt sich jeder eine Scheibe ab, füllte sie mit
Schafskäse (Urda) und knetete den Brei zu einer Kugel.
- Was eßt ihr außer
Mamaliga? fragte ich die Hirten. Nudeln,
Speck und ... Tuika. Alle lachten.
- Der Käse war inzwischen
fertig und konnte abgeschöpft werden. Ein Hirte packte
ihn in ein Tuch, daß er an einem Balken unter dem
Hüttendach befestigte. Aus der Flüssigkeit die im
Kessel blieb, erzeugten die Hirten die Urda, einen
Frischkäse.
- Die Schafe weideten auf dem
Hang gegenüber, das würden sie noch bis Mitte Oktober,
wenn die Hirten mit ihren Herden zurück ins Dorf kommen.
Dann gibt es bis zum nächsten Frühling Trockennahrung.
- Ich brauchte nicht bis
Oktober zu warten, Trockenfutter würde es schon am
nächsten Tag geben, wenn ich mit Michael und Hans-
Jürgen zum höchsten und wildesten Gebirgszug der
rumänischen Karpaten aufsteige - dem Fagaras -Gebirge.
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