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Tour´97 - Die Karpaten auf einmal! / Bericht von Falk aus Norsingen bei Freiburg

Karpaten`97 - Teil 1 / 2 / 3

Autor: Falk Kienas ... http://www.karpatenbilder.net

Inhalt Seite: 1 ...[Die Idee] [Der Start] [Rumänien] Die Banater Berge: [Durch die Nera-Klamm] In den Südkarpaten: [Das Godeanu-Gebirge] [Sturm] [Der Abstieg] [Sarmizegetusa] [Das Retezat-Gebirge] [Das Paring-Gebirge] [Das Lotru-Gebirge] [Der Unfall] [In Sibiu] [Karpatenhirten]


Die Idee
 
Wir befinden uns im Jahre 1988 n. Chr. Alle Hochgebirge Europas, wie Alpen, Pyrenäen oder die Berge Skandinaviens, sind für einen Bergwanderer aus dem Osten Deutschlands unerreichbar. Alle? Nein! Östlich von Wien beginnend, bilden sie einen 1500-Kilometer-Bogen im Osten Europas - die Karpaten.
Mit Uli, einem Freund, sitze ich am 3. August im Balt-Orient-Expreß nach Rumänien, unser Ziel: die Westkarpaten.
Es ist meine erste Bergtour, und als Neuling geistern mir allerlei Fragen durch's Hirn: Wird es schwierig sein das Zelt aufzubauen? Reicht das Essen? Wie können wir uns verständigen, ohne Sprachkenntnisse? Reichen unsere zwei Wochen Urlaub für die Tour?
Sie reichten und ich war begeistert. In meinem Kopf fing es an zu spuken, eine Idee, die mich nicht mehr loslassen sollte: Einmal, so wünschte ich mir, werde ich sie laufen, vom Banat in Rumänien bis zur Donau in der CSSR - die Karpaten.
 
Der Start
 
22. Mai 1997. Mit Uli sitze ich im Linienbus Freiburg-Bukarest, unser Ziel die Karpaten. Ich war im Begriff mir meinen Wunsch zu erfüllen. Zu Fuß durch die Karpaten, das hieß, 1500 Kilometer laufen, durch 3 Länder Europas: Rumänien, die Ukraine und die Slowakische Republik.
Uli wollte mich auf den ersten vier Wochen durch die Südkarpaten begleiten. Fast 9 Jahre sind seit unserer ersten Reise verstrichen. Vieles hat sich verändert. Das Wichtigste: Alle Gebirge der Erde sind für einen Bergwanderer aus dem Osten Deutschlands erreichbar.
In Kanada, Neuseeland und Wales konnte ich genügend Trekkingerfahrung sammeln, in der Volkshochschule lernte ich etwas Rumänisch und auch den bürokratischen Teil meiner Vorbereitungen bewältigte ich mit Erfolg. Mein Rumänien-Visa galt 6 Monate, das der Ukraine 6 Wochen, für die Slowakische Republik brauchte ich keins. Den Job hatte ich geschmissen und hoffte, mein Ziel bis zum Einbruch des Winters, so Ende Oktober, erreicht zu haben.
Rumänien
 
400 Mark sollte Florin, der Busfahrer, zahlen, sonst würden die vier Zöllner ihren Job mal gründlich machen, und den Bus für einige Stunden aus dem Verkehr ziehen. „200 Mark kriegen die im Monat“, schimpfte mein Vordermann, ein Deutschrumäne aus Südbaden. „Jetzt verdienen die in einer Minute die Hälfte.“ Florin zahlte angeblich aus der eigenen Tasche, um seinen Fahrplan einzuhalten, und wir sammelten danach, um seinen Verlust auszugleichen - ich war wieder in Rumänien.
Die Löcher in der Straße wurden größer, dazwischen tummelten sich Fuhrwerke, Schafe, Rinder, Hunde und Geflügel.
Arad, die erste Stadt nach der Grenze, wirkte wenig einladend. Die Wohnblocks an der Straße sahen nicht so aus, als ob sie das Jahr 2000 miterleben dürften. Wichtige Dinge an ihnen, wie Mörtel, Putz oder Fensterscheiben fehlten zum Teil. Ich fragte mich, ob letztere einfach vergessen wurden oder irgendwann einmal rausgefallen sind.
Neben den Gleisen der Straßenbahn schliefen Zigeuner, Kinder hockten auf dem Gehsteig, schnüffelten Klebstoff und an der Haltestelle standen Männer, Bündel mit Geldscheinen in den Händen. Es waren 10 000 und 50 000 Lei Scheine, die Währung Rumäniens.
„Immer erst die Leis geben lassen, nie umgekehrt!“, warnte mich der Badener, als ich etwas Geld für den Anfang tauschen wollte.
Das zweite Mal hielt der Bus in Timisoara, unserer Endstation. Als Ausgangspunkt der Tour wählten wir Sasca Româna, ein Dörfchen am Rande der Banater Berge, wenige Kilometer westlich der Nera-Klamm.
Die Banater Berge
 
Durch die Nera-Klamm
 
Der erste Tag auf meinen zurückliegenden Bergtouren gestaltete sich immer folgendermaßen: aus einem Tal schindete ich mich hoch bis zum Kamm und war froh, daß ich abends vorm Zelt sitzen konnte und meine Suppe löffeln durfte. Das sollte auf diesem Marsch anders werden, und die Nera-Klamm bot eine ausgezeichnete Alternative als Auftakt meiner Karpatendurchquerung. Die Nera entspringt im Zentrum des Banater Berglandes, dem Semenic-Gebirge. Westlich des Dorfes Sopotu Nou schneidet sie sich durch den Kalkstein des Anina-Gebirges, und bildet die 18 km lange Klamm, die kurz vor Sasca Româna endet. Von dort sind es noch rund 30 km bis zu ihrer Mündung in die Donau.
Kurz hinter Sasca Româna standen wir nun gebückt unter der Rucksäcke Last und eingehüllt in eine Staubwolke, die der Dacia hinter sich ließ, nachdem uns der Fahrer abgesetzt hatte. Jetzt, als es ernst wurde, fühlte ich mich nicht gerade zum Bäume ausreißen. Uli schien es ähnlich zu gehen. Da drückte der Rucksack, das würde er auch noch nach 1000 km, trotzdem ein guter Grund ihn abzusetzen, die Teleskopstöcke hatten nicht die richtige Länge und die Wasserflasche steckte auch noch nicht am rechten Platz. Als alles zu passen schien, ein Blick auf die Uhr: Viertel vor fünf, es ging los...
Der Weg schlängelte sich durch Maisfelder, die jungen Pflänzchen warfen in der Nachmittagssonne lange Schatten auf den Acker. Bauern auf ihren Pferdekarren rollten uns entgegen. Ihr Hauptanbauprodukt ist Mais. Er dient als Viehfutter und in Form von Maisbrei als rumänisches Nationalgericht - die Mamaliga.
Wir folgten dem Pfad hinunter zum Fluß. Die Felder lagen hinter uns, vor uns lagen bewaldete Hügel aus denen ab und zu weiße Kalkfelsen herausschauten. Auf den Wiesen am Ufer leuchteten Wicken, die uns bis an die Hüften reichten.
Vor 17 Jahren lief Uli schon einmal durch die Klamm. Er hatte einen bemerkenswert, exakt ausgearbeiteten Plan, was die Tagesetappen unserer Tour betraf. So wußte ich schon jetzt, wo ich in zwei Wochen schlafen, und was ich zum Abend essen würde. Jede seiner Reisen plante Uli vorab bis ins Detail. Das Interessanteste aber war die Tatsache, sein Plan funktionierte meistens nicht. „Es wäre ganz gut, wenn wir es heute bis Damians Haus schaffen würden“, rief er mir zu. „Damals brauchten wir zwei Stunden.“ Hinter besagtem Haus verengt sich das Tal und die Klamm beginnt. Zwei Stunden verstrichen, kein Haus weit und breit und meine Schultern wollten sich mit den Rucksackgurten nicht so recht anfreunden. Drei gute Gründe, den ersten Tag mit einem Bad in der Nera ausklingen zu lassen.
Als wir bis zum Mittag des nächsten Tages Damians Haus immer noch nicht entdeckt hatten, konnte irgendetwas nicht stimmen. Wir befanden uns auf Abwegen, das war klar. Wo wir uns im Moment befanden, war jedoch nicht so klar. Zum Glück hatte ich vor meiner Abreise in einer Zeitschrift etwas über GPS gelesen. Ich setzte meine „No-Problem-ich-habe-alles-im-Griff-Miene“ auf, und holte das kleine, schwarze Wunderding aus dem Rucksack. Drückte auf „on“ und wartete. Als es nach einer halben Stunde immer noch keine Satelliten entdeckt hatte, kam es zurück in den Rucksack, weit nach unten. Wir einigten uns auf's Umkehren und fanden tatsächlich den rechten Weg. Er war mit einem roten Band markiert, eigentlich kaum zu übersehen. Genausowenig wie der Typ in grüner Uniformjacke. Die Nera-Klamm ist Nationalpark und der Mann war der Pförtner. Wir zahlten jeder 3000 Lei, bekamen eine Quittung und durften passieren.
Die letzte Stunde bis Damians Haus, einem Bauernhof, war die reinste Quälerei. Da wollte ich 1500 km durch die Karpaten wandern und hatte nach anderthalb Tagen schon Blutergüsse auf den Schultern. Ich mußte unbedingt Ballast abwerfen, doch so einfach war das nicht. Das Essen war am schwersten, wurde aber von Tag zu Tag leichter. Dann folgten die Karten. Meine Karten deckten den slowakischen - sowie ukrainischen Teil der Karpaten komplett ab, den rumänischen Teil zu etwa zwei Drittel. Für das restliche Drittel hatte ich Uli und meinen Instinkt. Ich würde die ersten 3 Monate sicher mit einem Viertel der Karten auskommen und mußte mir für die übrigen etwas einfallen lassen. Doch nicht hier und jetzt.
Im Moment mußten wir etwas trinken, unsere Wasserflaschen gaben schon eine ganze Weile nichts mehr her. Gute Gelegenheit meine Rumänischkenntnisse zu testen. „Haben Sie Wasser?“ fragte ich einen Mann, der eine Kuh hinter sich über den Hof führte. Er deutete mit dem Kopf zur Nera und verschwand im Stall. Trinkwasser aus der Nera?, das wollte ich meinem verwöhnten Magen dann doch nicht antun. Die Kuh brachte mich auf eine Idee: „Und Milch?“ rief ich in Richtung Stall. Ich solle um acht kommen, antwortete eine Frauenstimme.
2500 Lei wollte die Frau des Hauses für einen Liter Milch. Ich kramte die Scheine aus dem Rucksack und gab sie ihr. Sie überlegte kurz, gab mir das Geld zurück und fragte nach Zigaretten. Ich rauche zwar nicht, hatte für solche Gelegenheiten jedoch immer etwas im Gepäck. Ich gab ihr eine Schachtel. Sie ließ gleich den ganzen Eimer da. „Nehmt den Rest morgen mit nach Sopotu Nou“, sagte sie lachend und ging.
Wir liefen am nächsten Morgen bis uns die Felsen stoppten. Jetzt begann das Abenteuer. Den in Fels gemeißelten Weg benutzten vor uns römische Legionäre, nach ihnen Waffenschmuggler und Soldaten. Ab und zu mußten wir auf allen Vieren durch mehr oder weniger lange Tunnel kriechen. Die schwierigste Stelle ist etwa 10 Meter lang. Am Fels baumelten vor sich hin rostende Stahlseile. Uli balancierte an der Wand entlang und kam ohne Probleme rüber. Ich mußte das Stück dreimal laufen, da mein Rucksack zu hoch, und ich, mit der Kameratasche vorm Bauch, zu dick war. Nach ein paar hundert Metern endete der Pfad am Ufer der Nera, wir mußten auf die andere Seite des Flusses. Ich konnte ohne Probleme auf Felsen kraxeln, mich durch's Dickicht schlagen und im Tiefschnee robben, vor Flußdurchquerungen hatte ich jedenfalls Respekt. Bei so einer Aktion ging ich mal gründlich baden, zerstörte mir mein linkes Knie und versenkte eine 2000-Mark-Kamera samt Objektiven.
Das Wasser reichte mir hier bloß bis zu den Knien und die Strömung war erträglich. Weiße, kahle Felsen säumten die Nera, mal auf der Nord-, mal auf der Südseite. Leider versperrten Sträucher und Bäume oft die Sicht auf den Fluß. Die Nera erinnerte mich an die Paddelflüsse im Süden Frankreichs, ich würde sie sicher noch einmal besuchen, mit einem Kanu im Gepäck. Schweigend folgten wir dem Pfad, der nun immer am Südufer entlanglief und uns nach 6 Stunden aus der Klamm, auf die Poiana Mielugului, die Lämmerwiese, führte. Lämmer gab es keine, dafür jede Menge Pfefferminze. Wir konnten die Teebeutel im Rucksack lassen.
Der romantische Teil der Nera lag hinter uns, es folgte der praktische. Auf den Wiesen links und rechts am Ufer, mähten die Männer Gras. Die Frauen rechten es zu Haufen. „Wie weit ist es noch bis Sopotu Nou?“ fragte ich einen Opa, der gerade seine Sense schärfte. „Noch 15 Mintuen, bis zur Brücke“, sagte er. Dann folgten die üblichen Fragen nach dem Woher und Wohin. Mit zwei Deutschen hatte der Mann offensichtlich nicht gerechnet. „Germania? Jejejeje“, staunte er, schüttelte mit dem Kopf und lachte. Seine oberen Zähne fehlten, da die unteren jedoch doppelt so lang waren, machten sie die Lücke wett. Die Wiese, auf der er arbeitete war ziemlich groß. „Ein Gesetz, das die neue Regierung in diesem Jahr verabschieden will, würde jedem 50 Hektar Land und 30 Hektar Wald zuerkennen, vorausgesetzt die Eigentümer oder deren Erben, können den Besitz vor der Agrarreform 1945 nachweisen“, erklärte er uns. „Bis jetzt waren es nur 5 Hektar.“ Ich konnte mit 50 Hektar nicht viel anfangen, überlegte und kam zu dem Ergebnis, daß ich etwa 45 Minuten brauchen würde, um einmal drumherum zu laufen. Noch weniger verstand ich, wie es möglich ist, Flächen von dieser Größe mit den primitivsten Geräten zu bearbeiten. Landmaschinen hatte ich bis jetzt bloß in den aufgelösten Kooperativen gesehen - verrostet und halb zerfallen. Mit dem Gesetz halten sich die Herren aus der Politik selbstverständlich auch soziale Unruhen vom Hals. Die Arbeit auf dem Acker läßt den Menschen keine Zeit, über ihre besch... Lage nachzudenken und deswegen aufzumucken.
Nach einer viertel Stunde standen wir tatsächlich vor einer Brücke. Brücke war eigentlich nicht das richtige Wort. Über knochenbleiche Bretter, die an zwei Stahlseilen aufgefädelt waren, konnten wir den Fluß überqueren. Links und rechts baumelten noch zwei Seile, zum Festhalten.
Sopotu Nou ist ein typisches Dorf in Rumänien. Schweine, Gänse, Kühe und Pferde kamen uns auf der Straße entgegen, eine Frau wusch ihre Wäsche im Bach, Männer mittleren Alters bastelten an einem Volkswagen rum und von den Hinterhöfen drang Hundegekläff herüber. Unser nächstes Ziel lag bereits in den Südkarpaten - das Godeanu-Gebirge. Ab dort wollten wir etwa 280 km nach Osten, dem Kamm der Südkarpaten folgen, bis ins Prahovatal am Fuße des Bucegi-Massivs. Ein Bus sollte 3 Uhr nachmittags bis Bosovic fahren, von dort hatten wir Anschluß nach Herkulesbad. Da könnte ich dann auch mein „Gewichtsproblem“ lösen, indem ich ein Paket unnötiger Dinge zu Tudor schicken würde, einem Freund in Nordrumänien. Am Straßenrand stand ein Bus, wir setzten uns daneben. Da hier sehr selten etwas passierte, schenkten die Leute, besonders die Kinder, jeder Neuigkeit besondere Aufmerksamkeit. Wir waren so eine Neuigkeit.
Mihai war 11 Jahre alt und Roma. „Wart ihr fischen?“ fragte er, nachdem er eine Weile meine Teleskopstöcke betrachtet hatte. Ich versuchte ihm zu erklären, daß ich die Stöcke zum Wandern nehme. Natürlich, mit etwas Talent im Improvisieren, sind sie auch als Angelruten brauchbar. „Gibst Du sie mir?“ fragte Mihai, als ihm klar war, wozu die Dinger taugen. „Du brauchst sie doch nicht mehr, bist doch fertig mit Wandern.“ Es brauchte etwas Geduld ihm zu erklären, daß ich noch nicht fertig war. Dann führte er bessere Argumente ins Feld: „Gibst Du mir einen? Du hast doch zwei. Ich muß jeden Tag so weit zur Schule laufen.“ Jetzt war ich an der Reihe und ziemlich sprachlos. Das Argument leuchtete ein: Wozu brauchte ich zwei Wanderstöcke? „Ähm, ja ... das ist so...“
Wir begegneten uns einfach zu früh. Wäre ich die Tour in der anderen Richtung gelaufen und die Nera-Klamm mein letzter Teil, hätte ich ihm die Stöcke in die Hand gedrückt. Aber jetzt wollte ich mich noch nicht von ihnen trennen. Zum Glück gesellten sich seine beiden kleineren Geschwister dazu und brachten Mihai erst einmal auf andere Gedanken. Aber nicht für lang, die Stöcke faszinierten ihn nach wie vor. Erst als ich alle drei mit Müßliriegel versorgt hatte, durfte ich meine Stöcke behalten.
Der Bus fuhr zwar um 15 Uhr, aber nicht in unsere Richtung. Uns blieb nichts weiter übrig, als zu trampen. Wir wurden zweimal abgesetzt und stiegen in Herkulesbad im Hotel Roman ab.
 
In den Südkarpaten
 
Das Godeanu-Gebirge
 
Eine Schotterstraße führte von Herkulesbad zum Cerna-Stausee, der sich an die Ausläufer des Godeanu-Gebirges schmiegte, unserem nächsten Abschnitt. 25 Kilometer waren es bis dortnin, nicht viel, verglichen mit dem was noch vor mir lag, aber langweilig. „Nehmen wir ein Taxi“, schlug Uli vor. „Dann hätten wir den verlorenen Tag in der Nera-Klamm wieder raus.“ Die Idee gefiel mir.
Das Taxi ähnelte den Häusern in Arad. Zwar fehlte noch nichts Wichtiges, doch das konnte sich ändern. Meine größte Sorge bestand darin, unseren Fahrer zu verlieren. Er lenkte mit der rechten Hand, die Linke hielt die Fahrertür fest, die sich dauernd öffnete.
Sein Fahrzeug war vermutlich nicht für Überlandfahrten ausgelegt. Dreimal erkundigte er sich bei Straßenarbeitern, ob er bis zum Stausee fahren könne. Am Stausee angekommen, fiel dem Mann ein Stein vom Herzen, keinen Meter wäre er weiter gefahren.
Uns ärgerten bereits wieder die Rucksäcke, als er noch immer über seinen Wagen gebeugt, den Motor inspizierte. „Ob er's zurück schafft?“, fragte ich mich.
Die Forststraße führte noch ein gutes Stück am See entlang.
„Wo der Ivanul-Bach in den Stausee mündet, müssen wir abbiegen“, meinte Uli.
Wir waren nicht die Einzigen, die in diesem Frühjahr aufstiegen. Zwei Hirten mit ihren Schafen, Eseln und Hunden hatten den gleichen Weg, jedoch mehr Zeit. „Ist noch zu früh“, sagte einer. Der 21. Mai, ein orthodoxer Feiertag, galt offiziell als Tag des Almauftriebs in den Karpaten. Da der Winter sehr viel Schnee brachte, ließen die Hirten ihre Tiere noch im Schutz des Waldes weiden. Hier war das Gras besser als auf den Almen, die um diese Jahreszeit noch deutlich über der Schneefallgrenze lagen. Als es schon dämmerte, suchten wir uns einen Platz zum Schlafen und bauten das Zelt auf. Die Schäfer lagerten ein Stück weiter unten, sie hatten kein Zelt, brauchten auch keins. Sie entfachten ein Feuer, das vermutlich morgen noch brennen würde und hüllten sich in ihren Tundra, den Schafspelz. Die Schafe wärmten sich gegenseitig.
Gegen Mittag des nächsten Tages erreichten wir den ersten 2000-Meter-Sattel unserer Tour, vor uns lag eine Stâna, eine Hirtenstation. Sie war noch nicht in Betrieb. Schnee und Wolken bedeckten den Godeanu-Gipfel, nachdem das Massiv benannt wurde. Ein kalter Nordwestwind bließ uns entgegen, die Sicht war trotzdem gut. Am Horizont reihten sich die Schneebedeckten Gipfel des Retezat-Gebirges, dort wollten wir hin.
Wie würde es auf dem Karpatenkamm Ende Mai aussehen? Würden wir durchkommen, oder lag noch zuviel Schnee? Die beiden Fragen bewegten mich schon Monate vor der Tour. Jetzt, als ich hier oben stand und den Blick über den Hauptkamm bis zum Retezat schweifen ließ, hatte ich meine Antwort. Bis auf vereinzelte Schneefelder war der Kamm frei. Es müßte klappen, vorrausgesetzt das Wetter schlug nicht um.
 
Sturm
 
Es schlug - hart, kräftig und unter die Gürtellinie.
Drei Forderungen stellte ich in der Regel an einen Schlafplatz: windgeschützt, bequem und Wasser sollte in der Nähe sein. Der heutige erfüllte keine. Während ich das Zelt aufbaute, durfte ich es nicht loslassen, der Wind hätte es geschnappt und wir hätten es aus dem Cerna-Stausee fischen können. Um sicher zu gehen, beschwehrte ich die Abspannschnüre und den Rand mit Steinen. Es hatte eine leichte Schräglage, so daß wir im Schlafsack immer wieder nach unten rutschten und zum Kochen mußten wir Schnee schmelzen.
Gegen Mitternacht wurde ich wach, irgend etwas war anders als sonst. Ich hörte Uli nicht mehr schnarchen - draußten tobte ein Sturm. Im Abstand von wenigen Sekunden donnerte eine Bö nach der anderen gegen die Breitseite des Zeltes. Das Gestänge bog sich gefährlich unter der Wucht des Windes, jedesmal tanzte der Nylonstoff über meiner Nasenspitze und auf meinen Füßen lag etwas Schwehres. Ich trat gegen die Zeltwand, Schnee rutschte nach unten, Kondenswasser tropfte auf den Schlafsack. Ich blieb liegen und hoffte, daß die Abspannungen hielten und ich nicht raus müßte. Erst der obligatorische Druck im Dickdarm, trieb mich am Morgen aus dem Schlafsack. Die Rucksäcke unter der Apsis bedeckte eine fünf Zentimeter dicke Schneeschicht. Draußen war alles weiß, wie im tiefsten Winter, der Sturm tobte noch immer. Wir blieben im Zelt. Erst zum Abend ließ der Wind etwas nach, in der Nacht war es ruhig. „Was sollen wir machen?“ fragte Uli. Da keiner Lust hatte, sich noch einen Tag im Zelt zu langweilen, einigten wir uns auf's weiterlaufen. Das war falsch. Kaum hatten wir unsere Siebensachen in die Rucksäcke gestopft und jeder etwas Müsli runtergewürgt, ärgerte uns Zamolxis, der Dakergott, mit neuen Sturmböen. Den Oberkörper nach vorn gebeugt, stemmten wir uns gegen die Naturgewalten. Wir sahen nichts. Oben und unten, vorn und hinten, links und rechts alles weiß. Harte Eiskristalle stachen ins Gesicht und verklebten die Nasenlöcher. Mein Rucksack wurde hin und her gerissen, ich kam mir vor wie ein Testkörper im Windkanal. Aber das Schlimmste war - wir hatten völlig die Orientierung verloren. Das GPS funktionierte nicht, irgend etwas hatte auf den Einschaltknopf gedrückt, wärend es im Rucksack lag. Die Batterien waren leer.
Über den Boden peitschte der Sturm, hier das Zelt aufzubauen schien unmöglich, der Wind hätte es in Fetzen gerissen. Vor etwa 200 Metern passierten wir einen kleinen Geröllberg, dahinter könnte man vielleicht Zelten. Wir liefen zurück, glaubten es zumindest. In Wirklichkeit liefen wir nur im Kreis. „Jetzt nur nicht den Kopf verlieren“, sagte ich mir. Der Wind kam von Nordwesten, der Kamm lief leicht nach Nordosten. Wir spürten den Wind auf der linken Wange und auf dem Boden hatte er feine, scharfe Grate in den Schnee geschliffen, zu denen wir im rechten Winkel liefen. „Wir müssen uns um 180 ° drehen, so daß wir wieder im rechten Winkel zu den Graten laufen, nur den Wind auf der rechten Wange spüren“, rief ich Uli zu. Es klappte, nach wenigen Minuten standen wir auf dem Geröllberg.
Uli buddelte Steine aus dem Schnee, ich packte sie, als Ballast, auf den Zeltrand. Wir krochen hinein, und wieder begann der langweilige Rhytmus eines ungewollten Zeltaufenthaltes: essen, schlafen, ab und zu rausgucken, obwohl nichts zu sehen war, und im Hinterkopf quälten einen immer Gedanken, wie: „Hoffentlich hält das Zelt“, aus denen sich mit der Zeit die reinsten Horrorvisionen entwickelten. „Was tun wenn das Gestänge bricht oder das Nylon reißt und alles selbstverständlich in der Nacht.“ Unter diesen Bedingungen konnten wir unsere Tour nicht fortsetzen, wir zogen die Rettungsleine - morgen wollten wir absteigen.
Der Schnee türmte sich früh über einen Meter um unser Zelt, es stand jetzt erdbebensicher. Eine drei Zentimerter dicke Eisschicht umgab die Spannschnüre, und meine Schnürsenkel waren gefroren.
 
Der Abstieg
 
„Ich bin so aufgeregt, daß ich kotzen könnte“, rief Uli. Ich hätte mein Gefühl nicht treffender zum Ausdruck bringen können.
Wir wählten für den Abstieg die Nordseite, so weit wir einschätzen konnten, ging es hier nicht so steil abwärts wie auf der Südseite. Unsere Talfahrt ähnelte nicht im Geringsten den Abstiegen, die ich aus Heldenepen à la Messner & Co kannte. Durch knietiefen Schnee, teils stolpernd, teils auf dem Hintern rutschend, bewegten wir uns talwärts. Bald lagen die Wolken über uns, und wir sahen endlich, wie es ringsherum aussah.
Unter uns, in einem Kessel, rauschte ein Gebirgsbach, von Osten kommend. Er vereinte sich mit einem anderen Bach, der in mehreren Kaskaden eine Nordwand zu unserer Linken hinunterstürtzte und verschwand in einem Tal, das nach Norden führte. Wir folgten dem Bach und stießen nach rund 3 Stunden auf einen Kuhfladen. Das war ein gutes Zeichen. Hatten Hirten ihre Kühe hier hoch getrieben, mußte es auch runter gehen. Kaum begrüßten uns die ersten Tannen und Fichten, entdeckten wir einen Pfad, der uns zu einer Hütte mitten im Wald führte. Innen stapelten sich Holzscheite, die Kochecke war mit Steinplatten ausgelegt, ein Loch im Dach diente als Rauchabzug und auf einem Reisiglager konnten 3 bis 4 Personen schlafen. Vermutlich diente die Hütte den Hirten während des Almauf- bzw. Abtriebs als Unterkunft. Wir konnten uns aufwärmen und unsere Sachen trocknen. Das Zelt glich einem eingeweichten Wischtuch. Ich spannte ein Stück Schnur zwischen zwei Fichten und hing es drüber. „Made by Carin Karlsson“, laß ich auf einem Schildchen unter der Apsis. Ich hätte Carin am liebsten einen Brief geschrieben. Ihr Zelt hatte uns nicht im Stich gelassen, saubere Arbeit, vielen Dank Carin.
Später erzählte mir ein Rumäne, daß zur gleichen Zeit zwei Wanderinnen im Bucegi Massiv erfroren sind.
Uli legte inzwischen Feuer. Der Rauchabzug wollte nicht richtig arbeiten, der Qualm entwich aus allen Ritzen in den Wänden. Wir fühlten uns wie Aal in der Räucherkammer.
Einen halben Tag lang mußten wir uns noch durchs Gestrüpp kämpfen, über Baumstämme klettern und von einem Wildwechsel zum nächsten stolpern, ehe uns Hirsch- und Bärenspuren zu einem von Ceausescus Energieprojekten führten.
Der Gura Apei-Stausee ist eine Baustelle, obwohl auf meiner zehn Jahre alten Karte, bereits als fertig eingezeichnet. Trotzdem taugte der blaue Fleck, um sich zu orientieren und ein neues Ziel abzustecken. Das Retezat-Gebirge mit seinen 2500 Meter hohen Gipfeln dürfte für mindestens eine Woche allein den Gemsen gehören.
Wir entdeckten einen anderen Punkt. Vom Stausee führt eine Straße nach Hateg, östlich der Stadt erstreckt sich das Sureanu-Gebirge und mittendrin, auf dem Gradesti Berg 1200 Meter über dem Meer, liegt die alte Hauptstadt der Daker - Sarmizegetusa.
 
Sarmizegetusa
 
44 v. Chr.; mit seinem Tod hinterließ König Burebista den Dakern ein Reich, das sich von der heutigen Tschechischen Republik bis Bulgarien erstreckte. Über dieses Reich zu herrschen, es zu vergrößern und gegen Feinde zu verteidigen oblag seinem Nachfolger - Decebal. Feinde hatte er mehr als ihm lieb war, sie hockten bereits in halb Europa - die Römer.
Etwas mochten die Cäsaren überhaupt nicht: einen starken, kriegerischen Nachbarn, der ab und zu ihre Legionen verdrosch und noch dazu über ein Land herrschte, das Gold besaß. Der Streit war vorprogrammiert und eskalierte im Jahre 106, als Trajan mit seinen Legionen gen Norden über die Karpaten zog, die Daker schlug, und das Land als Provinz Dacien dem römischen Reich einverleibte. Die Hauptstadt der Daker, Sarmizegetusa, wurde zerstört und geriet in Vergessenheit.
Das Erste auf das wir stießen, war eine Mauer, mit Moos bewachsen und recht gut erhalten. Sie schützte die Menschen im Zentrum des Ortes mit seinen Wohnhäsern, Tempeln und Heiligtümern. Jetzt übernimmt den Schutz ein Wächter, sein Hund und die UNESCO. Jeden Tag kommt der Mann vom Weiler Gradistea de Munte die 8 km auf den Gradestii-Berg, im Sommer mit dem Rad im Winter auf Skiern. Er zeigte uns Reste der Kanalisation, Steine auf denen die Daker ihren Göttern Zamolxis und Gebeleizis Opfer darbrachten, sowie Säulenstümpfe, die wie Pilze aus dem Boden ragen und vermutlich als Kalender benutzt wurden. An einer Böschung hockte er sich hin und klaubte etwas aus dem Dreck, streckte uns seine Hand entgegen, dort lagen etwa ein Dutzend verkohlte Weizenkörner - fast 2000 Jahre alt.
Ein Gewitter beendete unseren Besuch in Sarmizegetusa. Die gesamte Siedlung zu besichtigen wäre sowieso unmöglich, sie erstreckt sich immerhin über eine Fläche von 150 Quadratkilometer. Selbst auf den benachbarten Bergen fanden Wissenschaftler Gebäudereste.
 
Das Retezat-Gebirge
 
Laut Plan müßten die Südkarpaten bereits Geschichte sein, stattdessen schleppte ich mich den Südhang des Retezat-Gebirges hinauf.
Zwei Dinge fehlten: der Schnee (geschmolzen) und Uli (zu Hause).
Ich saß vor einem Tümpel im Plaiu Mic-Sattel, spülte meinen Nudeltopf und im Kopf wirbelten die letzten Tage durcheinander. Zwei Wochen dauerte unsere Zwangspause. Wir wurden vom Regen eingeweicht, besuchten Freunde und einige Klöster in der Bukowina, die mir immerhin das Gefühl gaben, die Zeit nicht sinnlos vergeudet zu haben. Zwei Wochen, das entsprach einer Strecke von fast 300 Kilometer, die ich weiter im Osten sein müßte. Doch wo war ich? Ungefähr einen halben Tag von der Stelle entfernt, wo uns der Sturm davonjagte. Ab jetzt mußte alles wie am Schnürchen laufen, ging noch einmal etwas daneben, würde ich die Donau im Herbst nicht mehr sehen.
Der Nudeltopf blitzte inzwischen, meine Hände ebenfalls. Ich steckte sie in die Taschen meiner Fleecejacke und suchte die beiden höchsten Berge des Retezat-Gebirges; Vârful Peleaga (2509 m) und Vârful Papusa, die Puppe (einen Meter kürzer), drängelten sich am Horizont. Den Namensgeber des Gebirges, Vârful Retezat, konnte ich von hier oben nicht entdecken. Eigentlich war er nicht zu übersehen, als nördlicher Eckpfeiler des wissenschaftlichen Reservats Gemenele erinnert der Berg an einen Haremswächter. Und wie jenem fehlt auch ihm das Wichtigste - der Gipfel. Die Hirten gaben ihm deshalb auch den passenden Namen: Retezat, auf deutsch - abgeschnitten.
Das 1630 Hektar große Reservat Gemenele ist Teil des Retezat Nationalparks, es wird von der rumänischen Akademie der Wissenschaften betreut und ist für den gemeinen Wanderer tabu.
Am 22. März 1935 wurde der Nationalpark Retezat gegründet, der erste Nationalpark Rumäniens. Auf einer Fläche von 540 Quadratkilometern beherbergt der Park die meisten 2000er, sowie die meisten Gebirgsseen der Karpaten, Meeraugen genannt, Überbleibsel abgeschmolzener Gletscher der letzten Eiszeit. Der größte unter ihnen heißt Bucura, was „sich freuen“ bedeutet. Die Sonne tat's ebenfalls, rund und hell lachte sie mich an und auch ich war zufrieden, immerhin hatte ich für die Etappe wesentlich mehr Zeit veranschlagt. Vor einer Hütte, die dem Salvamont (rumänische Bergwacht) gehörte, fädelte ich mich aus dem Rucksack, setzte mich und stopfte ein paar Brotkrümel in den Mund. Auf einem Zettel, der mit einem Messer an die Tür genagelt war, stand: „Bin bei der Buta-Hütte“. Gestern kam ich dort vorbei, an die Hütte erinnerte nur noch ein verkohlter Haufen Holz.
Gewöhnlich brennen die Berghütten in den Karpaten über Silvester ab, die Buta-Hütte hat es später erwischt. Der Grund war vermutlich der gleiche, die Lieblingsbeschäftigung der Rumänen - Feuer machen. Selbst auf dem Fagaras-Kamm, wo es außer getrocknetem Schafsmist nichts gibt, was brennen würde, begegneten mir Wanderer mit Äxten im Gepäck.
Die nächsten Stunden waren anstrengend. Über einen schmalen Grat und lockere Geröllbrocken kraxelte ich auf den höchsten Berg im Retezat, den Peleaga. Es war mein erster 2500-Meter-Berg. Zweitausendfünfhundert Meter, das sind für die Karpaten schon eine beachtliche Höhe, wenn ich mir überlege, daß der höchste Berg, die Gerlsdorfer Spitze in der Hohen Tatra, 2655 m mißt.
Oben angekommen teilte ich den Platz neben dem Steinmann, der den Gipfel markierte, mit einer Gruppe Tschechen. Ihnen kam ich sehr gelegen, durfte ich doch gleich von allen ein Gipfelfoto machen. Ich blieb noch ein Weilchen auf dem Gipfel und sah den Tschechen beim Abstieg zu, als sie zu winzigen bunten Punkten geschrumpft waren, stieg ich auch nach unten. Über das Valea Rea-Tal ging es zum Gales-See. Laut Uli sollte es dort von Forellen nur so wimmeln. Das Einzige was wimmelte waren kleine schwarze Fliegen, nicht mal ein mickriger Stichling zeigte sich. Bei dem Namen kein Wunder, Lacul Galesul hieß der Schmachtende See. Ich holte meinen Juwel-Kocher raus und machte Wasser heiß für einen Tee.
Morgen würde ich das Gebirge verlassen. Aber auf welchem Weg? Es gab zwei Möglichkeiten: Über die Baleia-Hütte nach Lupeni und weiter nach Petrosani oder über die Pietrele-Hütte nach Ohaba de sub Piatra. Von Lupeni aus hatte ich es näher zu meinem nächsten Abschnitt, dem Parâng-Gebirge. Allerdings ereilte die Baleia-Hütte das gleiche Schicksal wie die Buta-Hütte. Von Ohaba war es zwar weiter bis zum Parâng, dafür gab es in der Pietrele-Hütte sicher Bier. Ich entschied mich für das Bier. Von Ohaba bis Petrosani könnte ich mit der Bahn fahren.
Inzwischen kochte das Wasser, ein Teil der Fliegen war in den Topf gefallen und ersoffen. Ich hing die Teebeutel dazu und beobachtete wie das Wasser langsam die Farbe wechselte. Auch der Himmel verfärbte sich, anfangs goldgelb später orangerot. Die Bergspitzen glühten ein letztes mal auf, dann war es finster.
Am nächsten Mittag um halb zwölf erreichte ich die Hütte. Ich bekam mein Bier und hockte mich unter ein Schild auf dem stand, daß Campen am Gales-See verboten sei und mit 50 000 Lei bestraft werden konnte. Das galt vermutlich nur für Einheimische, dachte ich mir. Einem Ausländer hätte man sicher Devisen abgekönpft oder den Kopf abgerissen. Ein schlechtes Gewissen hatte ich nicht.
Zum Glück brauchte ich nicht den ganzen Weg bis Ohaba laufen, kurz vor einem Dorf, das Nucsoara hieß, hielt ein gelber Dacia. An der Bahnstation in Ohaba wurde ich abgesetzt, wo mir der Zug nach Petrosani vor der Nase wegfuhr.
 
Das Parâng-Gebirge
 
„Sie können dort unten am Fluß ihr Zelt aufbauen“, sagte die Dame von der Bahnstation. „Dort finden sie auch schon Feuerstellen. Suchen sie sich den besten Platz aus.“ Ich fand ihn zwischen Bahndamm und Strei-Fluß, glaubte es zumindest. Das meine Wahl ziemlich ungeschickt ausfiel, merkte ich gegen Mitternacht. Es krachte einige Male, Tropfen und Hagelkörner rollten die Zeltwand runter und um mich herum schossen Blitze nieder, daß es im Zelt taghell wurde. Damit konnte ich leben, ersparte mir das lästige Suchen nach der Taschenlampe, wenn ich wissen wollte, wie spät es war. Als der Regen nach zwei Stunden stärker wurde, fing ich an, mir Sorgen zu machen. Ein Gedanke biß sich penetrant in meinem Hirn fest: So ein Fluß könnte sich ja innerhalb kurzer Zeit in einen reißenden Strom verwandeln. Gespannt lauschte ich dem Rauschen des Wassers, suchte schließlich doch die Lampe und schaute jede halbe Stunde nach draußen. Zum Glück dachte der Strei überhaupt nicht daran, sein Bett zu verlassen und bald darauf ließ auch der Regen nach, nicht jedoch der Zugverkehr auf der anderen Seite. Immer wenn einer auf meiner Höhe war, vibrierte die Isomatte.
Noch etwas benommen kletterte ich am nächsten Morgen in den Zug nach Petrosani. Im Abteil saßen Bauern mit ihrer Feldhacke, ein Soldat starrte aus dem Fenster und mir gegenüber saß eine Omi, auf ihren Knien stand ein Karton in dem es piepste. Küken die sie auf dem Markt in Petrosani verkaufen wollte. Ab und zu steckten bettelnde Zigeuner den Kopf durch die Tür, klimperten mit ein paar Münzen oder zeigten die mit Geschwüren bedeckten Arme und Beine. Verschwanden jedoch meistens ohne Leis, um ihr Glück im Nachbarabteil zu versuchen, bis sie der Schaffner an der nächsten Station rausschmiß. Im Gang standen die Raucher, blaugrauer Dunst der Marken Snagov und Carpati sammelte sich unter dem Dach. Das Beste aber war die Toilette, auf dem Brillenrand klebte die Ladung meines Vorgängers und auf dem Boden gärte der Urin einer Generation Reisender. Für Frischluft während der Fahrt, sorgte die geöffnete Wagontür.
Nach zwei erfolglosen Versuchen, in einer Bank Geld zu tauschen, verließ ich Petrosani auf der Nationalstraße 7A, in Richtung Parâng-Gebirge. Ich brauchte den ganzen Tag um nach oben zu kommen und war stolz, mancher schaffte es sein Leben lang nicht.
Unterhalb eines Gipfels der Parângul Mic hieß, traf ich Christie mit seinem Vater, 200 Schafen und 5 Karpatenschäferhunden. Genaugenomen machte ich mit den Hunden zuerst Bekanntschaft. Kläffend und mit gefletschten Zähnen stüzten sie auf mich los, stoppten ein paar Meter neben mir und begleiteten mich runter zu den Hirten. Erst ein Hagel von Flüchen, die ich nicht verstand und ein Hirtenknüppel schien sie davon zu überzeugen, daß ich weder Bär noch Wolf war und auch keine Schafe klauen wollte. Die 200 Schafe gehörten Christies Vater und darauf war er stolz. „Die meisten Hirten in den Karpaten sind nur angestellt“, sagte er. „Die Schafbesitzer holen bloß den Käse, um ihn auf dem Markt zu verkaufen.“
„Du willst hier oben zelten?!“ Christie wollte es kaum glauben. „Gestern hatten wir einen Hagelsturm, der uns fast vom Kamm fegte“, bestätigte sein Vater. Als die beiden merkten, das es mir mit dem Zelten ernst war, führten sie mich zu einer kleinen Mulde an der Südseite des Berges. „Hier ist es nicht so windig“, sagte Christie. Während ich das Zelt aufstellte, überschüttete er mich mit Fragen. „Ist das Zelt wasserdicht?“ „Hält es dem Wind stand?“ „Aus welchem Material ist das Gestänge?“ Das es aus Aluminium war, wollte er mir nicht recht abnehmen. Wie und was soeiner wie ich im Gebirge aß, interessierte ihn natürlich ebenfalls. Ich holte meinen Kocher raus und machte wieder mal die Spezialität des Hauses - Spagetti und Tütensuppe.
Die Suppe misriet mir, „...in 1/2 Liter kaltes Wasser einrühren...“, stand auf der Verpackung - meins kochte bereits 5 Minuten.
Christie konnte ich nicht überzeugen mit mir zu abend zu essen. Sein Vater zeigte mir den Weg, den ich morgen gehen müßte. „Wenn das Wetter schlechter wird, kannst du zu uns in die Stâna kommen“ sagte er zum Abschied. Dann verschwanden sie mit der Herde in den aufziehenden Wolken. Nur einer der Hunde leistete mir noch Gesellschaft. Als es dunkel wurde, trollte auch er sich. Leider wurde das Wetter nicht schlechter, ich hätte sonst was drum gegeben, eine bewirtschaftete Hirtenstation von innen zu sehen.
Die meisten Zweieinhalbtausender auf der Tour waren stattliche Berge, die mir ordentlich den Schweiß aus den Poren trieben. Parângul Mare, war eine Enttäuschung. 2518 Meter laß ich auf einem Blechschild, das den Gipfel markierte und kam mir veralbert vor. Ohne dem Schild, hätte ich es gar nicht mitbekommen, aber ich stand auf dem fünfthöchsten Berg der rumänischen Karpaten. Der von Süden und Westen sanft ansteigende Grashaufen fiel nach Norden steil ab, und das ganze Massiv tat es ihm nach. Meine Schuhe rutschten über glatte Steine, stolperten über tiefliegende Äste von Latschenkiefern und stoppten abrupt an einer Stelle, die aussah, als ob jemand mit einer Handvoll Wald Mikado gespielt hatte.
Die Lawine hatte eine Schneise von etwa 60 m in den Wald geschlagen. Das Wirrwarr endete in einem Bachbett, genau an der Stelle wo der Pfad den Bach überquerte. Von einem Steg gab es keine Spur mehr. Unglücklicherweise war der Bach zu breit, um drüber zu springen und zu reißend, um durchzuwaten. Ich lößte das Problem, indem ich mich rittlings über einen Baumstamm schob, der von meinem Ufer bis zur Mitte des Baches ragte. Dort war er abgebrochen, aber nebendran, etwas tiefer, lag das Ende eines zweiten Stammes, der auf die andere Seite führte. Es war nicht einfach von einem Baumstamm auf den anderen zu kriechen. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge auf einer Wippe, wenn man oben hockt und mit den Beinen in der Luft rudert, weil auf der anderen Seite Zwei sitzen, um einen nicht runter zu lassen. Drüben angekommen, ähnelte ich einem gefoulten Fußballspieler. Die Knie waren dreckig, das linke Schienbein blutete und in die Hose hatte ich mir ein Loch gerissen.
 
Das Lotru-Gebirge
 
Ich erweckte somit nicht den besten Eindruck, als ich die Cabana Obârsia Lotrului betrat. Dennoch bekam ich mein Bier. Das entschädigte mich für die Plackerei der letzten Stunden und machte den Aufstieg ins Lotru-Gebirge leichter.
In mühevoller Kleinarbeit sammelte ich auf meinen früheren Rumänienreisen jede Wanderkarte, die mir in die Hände fiel. Die Folge war, ich besaß von fast jedem Massiv in den Südkarpaten eine Karte. Es fehlte nur eine - das Lotru-Gebirge. Den Aufstieg zeigte noch meine Parâng-Karte, er war mit rotem Kreuz markiert. Mit dem Kartenende endete auch die Markierung, tauchte ab und zu noch mal auf und verschwand schließlich gänzlich.
Ich schob mir einen Power-Riegel zwischen die Zähne, lief querfeldein durch Tannen, Fichten, Farn und Wacholderbüsche und landete auf einer Forststraße, an der drei Häuser standen. Eins schien bewohnt, ich hörte Hundegebell, das zweite war ein Stall, das dritte war nur noch Atrappe. Hinter der halbgeöffneten Tür des Stalls stand eine Kuh, die von einem Jungen gemolken wurde. Ich erfuhr, daß dieser Ort der Weiler Steflesti sei und der nächste Weg auf der linken Seite ins Cibin-Gebirge führt.
Das Lotru-Gebirge endet im Tal des Olt, neben der Donau, der einzige Fluß, der die Karpaten durchbricht. Von dort hätte ich ins Fagaras-Gebirge aufsteigen können. Da sich jedoch mein Nudelvorrat dem Ende neigte, wählte ich den Weg übers Cibin-Gebirge. Ich verjagte die Kribbelmücken von meinen Handgelenken und lief los nach Sibiu, der Hauptstadt Transsilvaniens.
 
Der Unfall
 
Dunkelgraue Gewitterwolken sammelten sich hinter der Röm.-kath. Kirche, kurz darauf trommelten die ersten Tropfen an die Fensterscheiben meines Zimmers am Piata Mare, im Zentrum von Sibiu. Ich humpelte zurück zum Bett, es war hart und zerbeult wie eine transsilvanische Dorfstraße. Porcule, der Hauskater, hatte mir soeben mein letztes Stück Hermannstädter Salami geklaut. Mir wollte es noch immer nicht in den Kopf, draußen tobte das Leben und ich sollte meine Tour nicht mehr fortsetzen können.
Vorgestern Mittag: ich lehnte meinen Rucksack an den Pfahl eines Wegweisers und nagte an einem Schokoriegel. Der Gipfel des Cindrel spendete Schatten, die Sonne zeichnete Lichtreflexe auf den Iezerul Mare-See, tief unter mir. Trotz des Sommerwetters wehte ein frischer Wind, der mir zu sagen schien „Loß beweg dich! Pause kannst Du woanders machen“. Ich folgte seinem Rat, packte den Rucksack und wollte ihn mit einem heldenhaften Schwung auf meinen Rücken befördern, blieb mit der Unterkante des Rucksacks an der Kniescheibe meines rechten Knies hängen und riß mir diese nach oben. Ein stechender Schmerz bohrte sich bis ins Mark. Der Rucksack fiel zu Boden, ich folgte ihm. Es dauerte eine Weile bis mir klar wurde, was passiert war. Das man sich beim Aufheben des Rucksacks außer Gefecht setzen konnte, hätte ich noch vor wenigen Sekunden für Unsinn gehalten. Nun half auch alles Schimpfen und Fluchen nichts, ich hatte mich angestellt wie ein Idiot, ein Anfänger, einer der noch nie in den Bergen war. Und „klatsch“, schon hatte ich meine symbolische Ohrfeige bekommen. Vorsichtig tastete ich das Knie ab, versuchte es zu beugen, es klappte. Auf meine Stöcke gestützt rappelte ich mich auf und ging ein paar Schritte. Wenn ich das Bein nicht zu stark belastete, konnte ich laufen. Bis Paltinis waren es etwa 6 Stunden, ich wollte laufen soweit es ging. Hierzubleiben und abzuwarten hielt ich nicht für sinnvoll, wenn sich mein Zustand verschlechtern würde, käme ich überhaupt nicht mehr weiter. Schritt für Schritt humpelte ich Richtung Paltinis, von dort konnte ich mit dem Bus nach Sibiu fahren . Mein Knie ähnelte mittlerweile einem gefüllten Wassersack.
 
In Sibiu
 
Jetzt saß ich im Gästezimmer von Elena, einer Dame Anfang 60, die mit ihrem Sohn Nicu und bereits erwähntem Porcule, in einem Haus am Großen Platz in Sibiu wohnte. Wenn sich die Gelegenheit bot, vermietete sie ein Zimmer an Touristen, da sie neben ihrer Familie auch das Geld liebte. Neugierig schaute ich zu, wie mir Dr. Ciorteach, ein Mann Ende Fünfzig, zum siebenten Mal eine Flüssigkeit mit dem Namen Boicil Forte ins Knie spritzte. „Acht Wochen sollten Sie das Knie nicht belasten“, sagte der Doktor während er die Nadel herauszog. Ich glaubte nicht richtig zu hören. Da hätte man mir auch Geld und Papiere stehlen können, es wäre nicht deprimierender gewesen. In zwei Wochen kommen Michael und Hans-Jürgen,zwei Freunde, nach Brasov, um mich für ein paar Wochen auf meinem Trip zu begleiten. Im Moment sah es nicht so aus, ob ich überhaupt noch mal einen Fuß in die Berge setzten würde.
Nach einer knappen Woche war die Schwellung fast verschwunden, nur mit dem Laufen klappte es noch nicht richtig. Es tat noch weh. Der Artzt war trotzdem zufrieden und brauchte nur noch jeden zweiten Tag zu kommen, um mir Spritzen zu geben. „Es ist ein guter Artzt“, bemerkte meine Vermieterin. „Es gibt nur drei Ärtzte in Sibiu, die sowas behandeln können. Du hattest Glück, daß Du nicht ins Krankenhaus mußtest.“ Dann erzählte sie mir, wie es in Rumäniens Krankenhäusern zugeht. Über eine Pflichtversicherung, wie in Deutschland, wird in Rumänien zwar geredet, aber noch gibt es sie nicht. Nur Rentner haben eine Teilversicherung, die 75 Prozent der Kosten trägt. Jeder andere zahlt den Aufenthalt im Krankenhaus aus eigener Tasche, und man läßt ihn sich gut bezahlen. Die Löhne sind gering, ein Artzt verdient etwa 100 Dollar im Monat - Korruption steht an der Tagesordnung vom Chefartzt bis zur Putzfrau. So kümmert sich das Pflegepersonal nicht ordentlich um die Patienten, macht z.B. nicht sauber, wenn ihm nicht hin und wieder etwas Geld zugesteckt wird. Verpflegt werden die Patienten meist von ihren Angehörigen. Und wer nicht zahlen kann, wird nicht behandelt, lediglich Erste Hilfe ist kostenlos.
Tag für Tag schlich vorüber, am Vormittag kam der Doktor und malträtierte mein Knie, nachmittags schaute ich dem Treiben der Leute zu. Meistens schien die Sonne, das ärgerte mich. Die Eisverkäuferin unter meinem Fenster machte gut Umsatz. Kinder bettelten die Passanten an, holten ab und zu die Geldscheine aus der Hosentsche und zählten ihre Einnahmen. Zigeunerinnen verkauften Holzlöffel an Touristen. Ein Mann, dem die Beine fehlten rutschte über den Platz, sein Rollstuhl war ein Brett mit vier Rädern. An der Hauswand gegenüber stand ein Mönch und popelte in der Nase, auch er wollte Geld und im Radio faselte Stargast Clinton irgendewas von Freiheit und Demokratie, die Rumänen klatschten Beifall wie zur Ära Ceausescu.
Nach elf Tagen bekam ich meine letzte Spritze, Doktor Ciorteach nickte zufriden mit dem Kopf, ich konnte wieder in die Berge.
Insgesamt war ich nun über einen Monat im Rückstand, die Tour würde ich nicht mehr wie geplant beenden können. Ich entschloß mich schwehren Herzens auf den slowakischen Teil der Karpaten zu verzichten. Der Aufenthalt in Sibiu hatte auch ein gewaltiges Loch in meine Reisekasse gerissen. Dem Artzt zahlte ich 80 Mark, das war in Ordnung. Für die Unterkunft zahlte ich fast 500 Mark, das war eine Katastrophe.
 
Karpatenhirten
 
„Die Tüchtigsten aber erbauen im Gebirge Sennhütten. Dort verweilen Sie mit Gott und der Einsamkeit, bis der Tag kürzer wird.“ schrieb der rumänische Schriftsteller Mihail Sadoveanu in seinem Werk Baltagul.
 
Nicu kannte einen Hirten in Casolt, einem Dörfchen östlich von Sibiu. Wir wollten ihn besuchen, mein Wunsch eine Stâna von innen zu sehen erfüllte sich doch noch.
Das grünliche, kalte Licht der Straßenlampen ergab mit dem warmen, gelben Licht, aus den Fenstern der Häuser eine eigenartige Mischung. Auf einigen Höfen bellten Hunde und Siluetten der Pferdekarren holperten durch die zerfurchte Straße, das Dorf erwachte. Mollige Wärme schlug mir entgegen, als ich den Kuhstall betrat. Ghita war gerade mit dem Melken der Kühe beschäftigt, seine Frau half ihm bei der Arbeit. Der Stall war schmal, ein paar Glühlampen spendeten schummriges Licht, an der Wand, über den Köpfen der Kühe hingen Bildchen der Schutzheiligen, damit den Tieren kein Unglück wiederfahre. Zwölf Kühe besaß Ghita, doch in erster Linie war er ein Pacurar - ein Schafbesitzer.
 
Seine 500 Schafe weideten auf 60 Hektar Bergwiesen hinter dem Dorf. „Wir müssen uns beeilen“, sagte Ghita. „Die Schafe werden jetzt auch gemolken.“ Wir kletterten mit Nicolai, seinem Bruder, in den Geländewagen und schaukelten in die Berge. Ghita gehörten 10 Hektar Land, den Rest mußte er pachten, für 50 Mark im Jahr je Hektar. „Nicht jedes Stück Weideland ist für die Schafhaltung geeignet“, erzählte Ghita. „Du brauchst Wasser und vor allem Schatten. Gegen Hitze sind die Tiere sehr empfindlich; mindestens vier Stunden am Tag müssen die Schafe in den Shatten, so von 12.00 bis 16.00 Uhr.“
Von einer Herde war noch weit und breit nichts zu sehen, als den Wagen sechs Hirtenhunde attakierten. Jeder trug ein stachliges Halsband, als Schutz gegen Wölfe und zwischen den Vorderbeinen tanzte ein etwa 20 cm langes, daumendickes Rundholz. Was zum einen die Hirtenhunde als solche kennzeichnete und zum anderen sie daran hindern sollte, schnell zu laufen und sich irgendwo zu verbeißen. Als sie den Boss erblickten herrschte augenblicklich Ruhe. Ein Hund blieb bei uns, der Rest trollte sich zurück zur Herde.
Auf meine Frage was so ein Hund kostet, antwortete Ghita: „Ein guter Hirtenhund ist unbezahlbar. Kein Hirte würde je einen guten Hund hergeben. Der da ist nicht mal zwei Schnaps wert“, sagte Ghita lachend, indem er auf den Hund wieß, der neben ihm saß und sich mit der Hinterpfote am Ohr kratzte. „Zum Glück gibt es in der Gegend keine Bären, nur ab und zu Wölfe, da reichen sechs Hunde. Sonst brauchte ich doppelt so viele. Auch mit den Wölfen hatten wir noch nie Probleme - Gott sei dank. Ein Wolf kann, wenn er will, 100 Schafe töten. Der Bär nimmt in der Regel eins, höchstens zwei. Bei uns gibt es noch keine Versicherung, mit einem Schaf verliere ich auch ein Lamm und natürlich Käse. Das sind - Ghita überlegte - etwa 150 Mark. Wenn ich Glück habe, kann ich noch die Haut verkaufen. Aus Schafleder werden Jacken, Taschen oder ähnliches gemacht.“
 
Wir näherten uns einem Pferch in dem sich die Schafe gegenseitig auf die Füße traten. Sie wurden gerade gemolken. Von den vier Ciobani (Schafhirten), die bei Ghita arbeiteten, waren drei mit dem Melken der Tiere beschäftigt. Einer stand im Schafpferch und trieb die Tiere zu zwei Öffnungen in einem Bretterverschlag, dem Comarnic. Dahinter saßen zwei Hirten. Sobald die Köpfe der Schafe sichtbar wurden, packten die Männer zu und zogen die Schafe durch die Öffnungen, jeder klemmte sein Schaf zwischen die Knie und fing an es zu melken. Alles dauerte nur wenige Sekunden. Früh, meist vor Sonnenaufgang, und am Abend werden die Schafe im Sommer gemolken, manchmal auch noch ein drittes Mal. Ein Schaf gibt jetzt etwa einen bis zwei Liter Milch am Tag. Im Frühling und Herbst ist es weniger.
Als alle Tiere gemolken waren, trieb sie ein Hirte wieder auf die Weide. Der andere nahm die Milch und wir gingen zusammen zur Stâna, um Käse herzustellen. Käse ist das einzige Produkt, was die Hirten auf dem Markt verkaufen. Für den Eigenbedarf machen sie auch ab und zu Butter oder gesäuerte Milch zum Trinken. Einmal im Jahr, meistens im Mai, werden die Schafe geschoren. Die Hirten erledigen diese Arbeit selbst, ein Schafscherer würde pro Schaf genausoviel kosten, wie der Hirte für ein Kilo Wolle bekommt. Die Wolle spielt keine große Rolle als Verkaufsprodukt. Ein Teil geht in die Türkei, der Rest bleibt im Land. Die Frauen in den Dörfern trocknen, waschen und färben die Wolle, anschließend fertigen sie Kleidung für den Alltag, Wandteppiche für die eigene Wohnung oder für Touristen und selbstverständlich auch den Tundra - den klassischen Schafspelz der Hirten, mit dem die Schäfer Regen, Hagel und Schnee in den Bergen trotzen.
 
In der Stâna angekommen, schüttete der Hirte die Milch in einen Kessel, hing ihn übers Feuer und rührte mit einem Stab, damit sich die Milch gleichmäßig erwärmte. „Um Käse zu machen, muß die Milch etwa 35 °C haben“, erklärte er. Dann nahm er den Kessel, trug ihn in die Hütte und gab einen Schluck Lab, das Ferment zur Käsebildung, dazu. Zum Abschluß warf der Mann einen Hirtenpelz über den Kessel, um die Temperatur zu halten. Jetzt würde es etwa eine Stunde dauern, dann ist der Käse fertig. Fünf Liter Milch ergeben rund ein Kilo Käse - Telemea genannt. Ich erfuhr, daß es vier Käse-sorten gibt: Brânza de Cas, Brânza de Telemea, Brânza de Urda und Brânza de Burduf. Letzterer aber wird nur aus der Milch guter Bergschafe erzeugt, da diese Milch den höchsten Fettgehalt hat. „Es ist auch der Teuerste, auf dem Markt kostet das Kilo knapp 10 Mark“, sagte Ghita. Er mußte es wissen. Jeden Tag holen Ghita oder sein Bruder Nicolai den fertigen Schafskäse und verkaufen ihn auf dem Markt in Sibiu. Ghita gehört zu den Hirten, die von ihrer Arbeit noch gut Leben können. Da er in der Nähe von Sibiu lebt, kann er die Transportkosten von der Stâna zum Markt in der Stadt gering halten. Mit seinem Auto ist er auch wesentlich schneller, und vor allem täglich auf dem Markt präsent. Im Gegensatz zu den Hirten in den abgelegenen Bergregionen. Für sie wird das Geschäft mit dem Käse immer unrentabler. Nur ein- bis zweimal in der Woche kommen Fahrer (meist Schwarzarbeiter) die ihren Käse abholen. Die Angestellten in den Bergen verdienen etwa 50 Mark im Monat, das liegt rund zwei Drittel unter dem Durchschnittslohn in Rumänien. Die Folge ist, immer weniger Menschen besitzen immer größere Herden und viele einst selbständige Hirten lassen sich bei einem 1000-Schaf-Besitzer anstellen.
„Fahr nach Poiana Sibiului“, sagte Nicolai. „Und du lernst die High Society unter den Schafbesitzern kennen. Bereits unter Ceausescus Zeiten basaßen diese soviel Geld, daß sie nicht wußten wohin damit.
Der Staat importierte Schafe aus Neuseeland und Australien, um sie für rumänische Verhältnisse zu züchten. Nach einer Fernsehreportage über die Schafhaltung in Australien, wo die Tiere mit Helikoptern zusammengetrieben wurden, stellte ein Schafbesitzer aus Poiana Sibiului bei Ceausescu einen Antrag. Er wollte auch einen Helikopter kaufen - natürlich ohne Erfolg.“
 
Erstaunlicherweise wurden die Eigentumsverhältnisse der Hirtenmillionäre während der Diktatur der Kommunisten so gut wie nicht angetastet. Es gab lediglich Verträge, die die Hirten verpflichteten ihre Produkte an den Staat zu verkaufen. Dieser bestimmte auch wieviel gezahlt wurde. Außerdem gehörte das Weideland in der Regel dem Staat, so daß die Pacht der Hirten ebenfalls das Staatssäckel füllte. Wer wenig Schafe besaß, war schlechter dran. Er mußte seine Tiere Genossenschaften überlassen. Nach der Revolution holte jeder sein Eigentum zurück. Dadurch ist heute die Konkurrenz zwar größer, die Preise aber sind frei.
Während der Käse im Kessel reifte, hockte sich Ghita ans Feuer und begann Mama-liga zu kochen - das Grundnahrungsmittel der Hirten. In einem Topf brodelte bereits Wasser, Ghita schüttete Maisgries dazu und fing an zu rühren, bis sich in dem Topf ein zäher gelber Brei bildete. Mit Schwung stülpte er den Topf um und balancierte den dampfenden Teigklumpen zu einem Holztisch vor der Stâna. Mit einem Bindfaden schnitt sich jeder eine Scheibe ab, füllte sie mit Schafskäse (Urda) und knetete den Brei zu einer Kugel.
„Was eßt ihr außer Mamaliga?“ fragte ich die Hirten. „Nudeln, Speck und ... Tuika.“ Alle lachten.
Der Käse war inzwischen fertig und konnte abgeschöpft werden. Ein Hirte packte ihn in ein Tuch, daß er an einem Balken unter dem Hüttendach befestigte. Aus der Flüssigkeit die im Kessel blieb, erzeugten die Hirten die Urda, einen Frischkäse.
Die Schafe weideten auf dem Hang gegenüber, das würden sie noch bis Mitte Oktober, wenn die Hirten mit ihren Herden zurück ins Dorf kommen. Dann gibt es bis zum nächsten Frühling Trockennahrung.
Ich brauchte nicht bis Oktober zu warten, Trockenfutter würde es schon am nächsten Tag geben, wenn ich mit Michael und Hans- Jürgen zum höchsten und wildesten Gebirgszug der rumänischen Karpaten aufsteige - dem Fagaras -Gebirge.

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