prima paginá
carpatii pesterile raport fotografie hártii informatie Willi si carte
Reportage de
cálátorie vechii
(Komm Mit) linkuri ghid si cazare privire de ansamblu dictionar postá

Streifzug durch die Ostkarpaten

Wanderungen in den Gebirgsteilen Maramures, Rodna, Ciumalau/Rarau und Calimani (30.05.-12.06.2004)

Ein Reisebericht von Günter Joos (Singen) gringojoos@web.de


Da ich diesmal ein paar Tage mehr Zeit habe, als sonst, begebe ich mich in ein Gebiet, das für mich aufgrund meiner Anreiseart etwas umständlicher zu erreichen ist. Die Maramuresch, so nennt sich die Region in Nordrumänien, wo sich auch das gleichnamige Gebirge befindet, ist bekannt für ihre besonders traditionelle Prägung. Aber auch die Gebiete in den Provinzen Bistrita - Nasaud und Suceava, die ich gestreift habe, zeigen eine unverkennbar ländlich - traditionelle Prägung, die sowohl tief im Alltag und in den Seelen der dortigen Menschen verwurzelt scheint, als auch in Häuserbau und Kunsthandwerk präsent ist.

Ausgangspunkt ist die Stadt Cluj im nördlichen Siebenbürgen, in der ich schließlich nach über 30-stündiger Anfahrt mit Bus und Microbus am späten Sonntagnachmittag eintreffe. Cluj ist eine der größten, aber auch eine der schönsten und "ordentlichsten" Städte Rumäniens. Da es keinen Sinn mehr macht, heute noch in die Maramuresch weiterzufahren, und ich auch nicht abgeneigt bin, die Stadt ein wenig kennenzulernen, lasse ich mich von einem Taxifahrer vom Bahnhof zu einer angeblich billigen Privatadresse in der Nähe kutschieren. Großzügig bietet er mir unterwegs noch an, er könne mich ja gleich nach Viseu de Sus fahren, dann bräuchte ich nicht extra in Cluj zu übernachten. Für 100 Euro, das entbehrt jeglicher Verhandlungsbasis, denn der Zug kostet mit Platzkarte umgerechnet etwa 4 Euro 50! Und aus den versprochenen 6 Euro für´s Zimmer wird´s auch nichts, denn bevor ich mit der älteren Dame auf den Preis zu sprechen komme, muß ich von ihr erfahren, daß sie vor kurzem Witwe geworden sei und das billigste Hotel in der Stadt mich angeblich 29 Euro kosten würde. Jedenfalls sind 15 Euro auf einer alten Couch in einem schlecht belüfteten, altmodischen Zimmer für die landesüblichen Verhältnisse reichlich überzogen. Essen ist auch nicht mit enthalten, aber wenigstens gibt es eine warme Dusche, um den Anreisemuffel herunterzuspülen. Bis zum Zentrum ist es zu Fuß noch ein gutes Stück, aber nach der langen Fahrt bin ich froh über etwas Bewegung.

Der historische Stadtkern hat tatsächlich einige sehenswerte alte Hausfassaden, Kirchen und weitere museale Gebäude zu bieten. Cluj wirkt allgemein sauberer und ordentlicher, als ich das bisher von rumänischen Städten gewohnt war, was sich ebenfalls auf die Dörfer und Kleinstädte, die sich hinter Alba Julia in Richtung Norden aufreihen, bezieht. Auch die Straße von Südtransilvanien hinauf nach Cluj ist die beste, auf der ich bislang in Rumänien unterwegs war. Das Anhängsel "Napoca", welches in der Alltagssprache allerdings kaum Verwendung findet, weist auf die dakisch - römische Gründung hin, d. h. die Stadt ist schon sehr alt. Cluj ist eine der Hochburgen der Ungarn in Rumänien, was wohl die verhältnismäßig große Präsenz von hellhäutigen und blonden Personen im Stadtbild erklärt. In vielen Familien wird selbstverständlich noch ungarisch gesprochen, aber auch einige wenige Zipser Sachsen sollen noch in der Stadt leben. Von ihnen wird Cluj übrigens Klausenburg genannt, die Ungarn verwenden den Namen Kokozsvár.

Die alte Dame hatte mir versprochen, mich um 4.30 Uhr morgens zu wecken. Ich hatte ihr gesagt, daß mein Zug um 5 Uhr geht. Ich werde gottseidank selber wach, finde aber das Hoftor verschlossen vor. Herumscharren und Räuspern nutzen nichts, und die Türglocke befindet sich außerhalb des Tors. Die Zeit läuft mir davon und ich beschließe den Ausbruch. Zunächst muß ich den elendsschweren Rucksack über´s Tor hieven, bevor ich mich selbst hinüberschwingen kann und mit meinem Tun sämtliche Hunde in der Nachbarschaft wecke. Ich bin schon ein wenig sauer, für die 15 Euro hätte sie sich wirklich wenigstens die Mühe machen können, mich pünktlich zu wecken. Völlig außer Atem treffe ich am Bahnhofsschalter ein, in der Eile lasse ich schier noch das Wechselgeld liegen, eine nicht unerhebliche Summe. Die Dame vom Schalter ruft mich aber zurück.

Drei vor Fünf sitze ich im Zugabteil, der Zug rollt jedoch erst mit 7 Minuten Verspätung aus dem Bahnhof. Aber wehe, ich wäre erst kurz nach 5 gekommen! Es sind noch relativ wenige Leute im Zug, für gewöhnlich sind die Eisenbahnabteile in Rumänien gut besetzt bis überfüllt und sehr laut, diese Reise jedoch läßt sich ruhig und entspannend an, ich bin allein in einem Abteil. Bis Salva passiert eigentlich landschaftlich nicht viel, grasüberzogenes Hügelland mit hellbraunen Erosionslücken durch Schafüberweidung wechselt mit Flachland, die Dörfer sind nur mäßig interessant, oft durch Industrieschrott ent- und von häßlichen Plattenbauten umstellt. Dieses seltsame Nebeneinander von Landidylle und The - Day - After -Stimmung findet man leider häufig in Rumänien, und man ist oft gewillt, beim Hinsehen ein Auge zu verschließen. Dies muß man allerdings lange nicht immer und überall tun, und hinter der Stadt Salva führt die Bahnstrecke durch das wunderschöne Salauta - Tal, welches mit verschlafenen, traditionellen Dörfern aufwartet, links und rechts von Bergkämmen gesäumt, welche bis obenhin mit dunklen, dichten Tannenwäldern überzogen sind. Auf saftigen Weiden grasen zufriedene Kühe mit gelangweilten Blicken und gemächlich mahlenden Kaubewegungen, um schöne Dorfkirchen herum gruppieren sich traditionelle Holzhäuser, deren tiefgezogene Dachstühle mit Holzschindeln belegt sind oder als wohlmodellierte Blechanfertigungen wie frisch poliert in der Morgensonne glänzen. Viele ansehnliche Gehöfte verteilen sich über das satte Grün der Wiesen. Die Orte im Salauta - Tal gelten übrigens als gute Ausgangspunkte zu Wanderungen in verschiedenen Massiven der Ostkarpaten, so teilt beispielsweise der enge Setref - Paß (817 m) das Tibles- vom Rodna - Gebirge.

Gut dreieinhalb Stunden dauert die Bahnfahrt. In Viseu des Jos besteige ich den dort wartenden Bus, mit dem ich schließlich kurz darauf Viseu de Sus (dt.: Oberwischau) erreiche. Diese liebenswürdige Stadt zu Füßen des Maramuresch - Gebirges ist Ausgangs- und Endstation der Wassertal - Bahn. Die letzte Waldbahn Europas soll sie sein, die alte Cozia-1 - Dampflok samt ihrer veralteten Waggons, und, obwohl in einem besonders entlegenen und ursprünglichen Landesteil verkehrend, durchaus eine kleine touristische Attraktion, wobei ich betonen will, daß es sich hierbei nicht etwa um eine Museumsbahn handelt, sondern um ein immer noch funktionierendes und sich in Gebrauch befindliches Verkehrsmittel der Waldarbeiter zum Abtransport der im Wassertal gefällten Bäume. Hier wird der Reisende auch gottlob noch keine Touristenbusse antreffen, die die Waggons der alten Dampfeisenbahn etwa mit fotografierwütigen Pauschalis vollpferchen. Es sind immer noch ein paar wenige Individualreisende, die sich hierherverirren und die sich zusammen mit der Mehrheit der Waldarbeiter und sonst im Forst tätigen Einheimischen auf die romantische Fahrt hinauf ins Wassertal begeben. Heute jedoch ist Pfingstmontag, Feiertag, und die Bahn verkehrt nicht. Das ist für mich nicht weiter tragisch, denn ich habe ohnehin anders geplant. Mir steht nämlich der Sinn danach, das schöne Wassertal (rum.: Valea Vaser) bis ganz nach oben hin zu erwandern, um die Bahn anschließend als Transportmittel für die Rückkehr nach Viseu de Sus zu nutzen.

In einem kleinen Gasthaus gibt es zum Frühstück nur eine Alternative, nämlich eine Ciorba mit Kutteln. Zur frühen Stunde sicher nicht Jedermanns Sache, aber ich bin in Beziehung auf Essen recht unkompliziert, zumal mir die Ciorba mit reichlich Smintina (Rahm) auch morgens schon gut mundet. Zwei junge Kerle pflegen am Nachbartisch den Frühschoppen, einer von ihnen lautstark das ganze Lokal unterhaltend, und die bedienenden Damen in Machomanier herumkommandierend. Zum Schluß komme ich mit ihm noch ein wenig ins Gespräch, er hat einen Verwandten in Tuttlingen, einer Stadt ganz in der Nähe meines Heimatortes Singen, und er war auch selbst schon dort.

Als ich abermals durch´s Stadtgebiet streife, um den Zugang ins Wassertal zu suchen, höre ich einen alten Mann mit teutonischem Aussehen deutsch sprechen. Es ist der Dialekt der Zipser Sachsen, einer von mehreren deutschen Minderheiten, die in Rumänien leben. Während die große Mehrzahl der Banater Schwaben und der Siebenbürger Sachsen Rumänien nach der Revolution den Rücken kehrten und ins Bundesgebiet übersiedelten, ist in der Maramuresch ein überdurchschnittlich hoher Anteil der dort ansäßigen Zipser Sachsen im Land verblieben. In ihrem Dialekt scheint mir eine Brise österreichisch - bayrisch durchzuklingen und er ist, wie die meisten Dialekte der volksdeutschen Gruppen in Osteuropa, vom Aussterben bedroht, genauso, wie die Kultur und die Traditionen dieser Menschen. Generell findet sich hier, in der nördlichen Maramuresch, nahe der Grenze zur Ukraine, eine interessante Zusammensetzung der Bevölkerung, denn es sollen neben den eben erwähnten Zipser Sachsen, die übrigens vor etwa zwei Jahrhunderten aus der slowakischen Zips (Tatragebiet) hierher eingewandert sind, auch noch Ukrainer, Ungarn, sowie Roma ansäßig sein.

Die Länge des Wassertals ist nicht zu unterschätzen, sie dürfte gut 60 Kilometer betragen, in einem Tag ist da also nichts zu machen. Orientierungsprobleme gibt es nicht, es geht alles am Fluß bzw. den Schienen entlang, wobei einen nur zwei Abzweigungen unterwegs eventuell in Verlegenheit bringen könnten. Die ersten beiden Stunden komme ich relativ langsam vorwärts, denn der Weg führt an vielen Behausungen vorbei, wobei die letzten Häuser des Städtchens Viseu de Sus praktisch nahtlos in die Siedlungen des Dorfes Novat übergehen. Immer wieder halte ich an, um mit den kontaktfreudigen Einheimischen zu konversieren. Obwohl ich ein eher introvertierter Typ bin, sind die Hemmschwellen diesbezüglich rasch überwunden. Mein Rumänisch ist leider immer noch nicht allzu gut, aber für kleinere Kontakte durchaus schon ausreichend.

In Novat bietet die neu errichtete, in traditioneller Weise mit viel Holz und schönen Schnitzornamenten gearbeitete, orthodoxe Dorfkirche eine frohlockende Sehenswürdigkeit. Plötzlich ruft mir ein junger Typ, der mit seinem Pferd unterwegs ist, etwas zu. Jos - unten - höre ich, und tatsächlich wäre ich um´s Haar auf eine mitten im Weg liegende Kreuzotter gestanden. Mit diesen Tieren habe ich auf meiner letztjährigen Wandertour im kroatischen Velebit - Gebirge reichlich Erfahrung gemacht, deshalb weiß ich, daß die Kreuzotter, die jetzt regungslos im Staub liegt, durchaus quicklebendig und auch irrsinnsschnell sein kann. Mit meinen über Knöchelhöhe reichenden Wanderschuhen dürfte ich aber trotzdem auf der sicheren Seite sein. Schon etwas tiefer drinnen im Tal, die letzten Behausungen liegen bereits hinter mir, treffe ich auf eine Gruppe von Schäfern, die gleichfalls talaufwärts ziehen, und sich mit ihren Hunden zu einer Pause im Gras niedergelassen haben. Die Tuika - Flasche kreist, und alle vier leuchten bereits reichlich trübe aus den Augen. Ich habe heute schon sehr viele an- und betrunkene Herren getroffen, offensichtlich ist der Feiertag ein willkommener Anlaß, der Tuika, dem Rachiu oder der berüchtigten Palinca zu fröhnen. Würde ich selbst den zahlreichen Angeboten unterwegs nachgeben, dann müßte ich mich wohl auch schon bald ins Gras legen, denn ständig werde ich zu einem Schlückchen animiert.

Liegen die letzten Häuser und Gehöfte von Novat einmal hinter einem, so erwarten den Wandersmann nur noch mehrere Kilometer auseinanderliegende Haltestationen der Waldbahn, die gerade mal von drei oder vier weiteren Gebäuden umgeben sind. Cozia heißt der erste Haltepunkt, das Tal ist zwischenzeitlich schmaler geworden, zuvor hatte ich noch die Flußseite wechseln müssen, da der Pfad auf meiner Seite plötzlich abbrach. Ein Hirtenjunge hatte mich am gegenüberliegenden Ufer beobachtet, und mir auf mein Anfragen hin bestätigt, daß ich wohl zu seiner Seite hinüberwaten müsse, um weiterzukommen. Also, Wanderschuhe aus, Hose runter und Badelatschen an. Zum Glück endete der Wasserstand knapp unterhalb der Unterhose, sonst hätte ich Selbige anschließend auch noch wechseln müssen. Ich marschiere nun auf der Seite weiter, auf dem das Gleis verläuft, hauptsächlich auf diesem oder direkt daneben gehend. Als ich noch am anderen Ufer marschiert war, hatte ich eine kleine Draisine gesehen, die mit fünf oder sechs Mann besetzt hinunter nach Viseu de Sus gesaust war. Es ist für den Fußgänger wichtig zu wissen, daß außer der Dampfeisenbahn gelegentlich auch noch außerfahrplanmäßige Schienengefährte auf der Strecke verkehren. Beispielsweise existiert noch eine Art Schienenbus, ein auf Waggonachsen geschweißter Kleintransporter.

Die Strecke zwischen Cozia und dem folgenden Haltepunkt Botizu ist die landschaftlich attraktivste. Hier wird das Tal richtig felsig, ist von düsterem Tannenwald gesäumt und wirkt abgelegen und menschenleer. Zwei Angler sprechen mich an. Da ich auf Anhieb nicht verstehe, gebe ich zur Antwort, daß mein Rumänisch sehr schlecht sei. "Hablas espanol?" fragt der Eine mich dann plötzlich. Eigentlich habe ich damit gerechnet, daß er mich nur deshalb gefragt hat, um ein "Nein" von mir zu hören, damit er mir gegenüber mit einer scheinbaren Sprachfertigkeit protzen kann. Tatsächlich aber spricht Gheorghe fließend spanisch, noch dazu ungarisch russisch und ukrainisch, Letztere seine eigentliche Muttersprache, denn er gibt sich mir gegenüber als der ukrainischen Minderheit zugehörig zu erkennen. Sein deutsch sei derzeit sehr schlecht, entschuldigt er sich, sein früherer deutscher Freund, von dem er diese Sprache gelernt hat, sei leider vor Jahren schon nach Deutschland verzogen. Die Kostproben scheinen dann auch prompt vom Zipser Dialekt gefärbt. Niemals hätte ich erwartet, inmitten eines weltabgelegenen und - vergessenen nordrumänischen Waldtales einen derartigen Polyglotten anzutreffen. Er hat allerdings längere Zeit zwecks Arbeit in Spanien zugebracht, wohin er auch bald wieder zu gehen beabsichtigt.

Es ist typisch für ein Land wie Rumänien, wo die wirtschaftlichen Verhältnisse für den Großteil der Bevölkerung so schlecht sind, daß oft eine oder mehrere Personen aus dem Verwandtenkreis vorübergehend oder dauerhaft gezwungen ist, sich ins Ausland zu begeben, um dort das dringend nötige Geld zu verdienen, das man im eigenen Land leider nicht erwirtschaften kann. Gheorghe macht mich auf ein paar Höhlen links und rechts des Vaser - Ufers aufmerksam. Hier hätte die Deutschen während des Zweiten Weltkrieges ein Lazarett unterhalten, es befänden sich auch mehrere unterirdische Gänge in den Höhlen. Die Russen seien damals dort oben gestanden, und er deutet mit einer Handbewegung Richtung ukrainische Grenze.

Beim Haltepunkt Bardau stoße ich auf ein Zelt, neben dem ein Schild prangt mit der Aufschrift "Loc de Odihna si Fumat (Ruhe - und Rauchplatz)". Was sich da so befremdlich anhört, ist die in Rumänien übliche Bezeichnung für einen Rastplatz. Ich kann mir vorstellen, daß der Hinweis mit dem Rauchen sich auf die Waldbrandgefahr bezieht, d. h. man soll wohl nur an den derart gekennzeichneten Plätzen rauchen, ein frommer Wunsch! Die Vaser wird in ihrem Bett in gewissen Abständen über hölzerne Dämme geführt, um bald darauf wieder wild schäumend über Felsen zu springen. Hinter einem Tunnel gelange ich zur Station Botizu, wo ich mit dem dortigen "Stationsvorsteher" ins Gespräch komme. Jede Station auf dem Schienenweg ist von mindestens einer Person besetzt oder bewohnt, aber dazwischen treffe ich kaum eine Menschenseele.

Etwa 200 Meter vor der Haltestelle Faina beschließe ich den Wandertag und baue mein Zelt am Ufer der rauschenden Vaser auf. Es gab sicher schönere Zeltplätze am Weg, die Entscheidung für diesen hat eher praktische Gründe. In den Karpaten fühle ich mich zugegebenermaßen nicht immer ganz wohl bei einsamen Waldübernachtungen, es könnte sich ja doch einmal ein Bär an mein Zelt verirren! Deshalb ziehe ich heute die Nähe zu menschlichen Behausungen vor, wo sich auch immer ein oder mehrere Hunde befinden, die sofort loslegen, wenn sie etwas Ungewöhnliches bemerken. Zudem habe ich heute schon reichlich Kilometer gemacht und die Ruhe in der milden Abendsonne habe ich mir bereits mehr als verdient. Man findet entlang der Vaser viele traumhafte Flußauen, allerdings ist auch eine große Zahl durch die schweren Waldarbeiterfahrzeuge zerstört. Man darf nicht vergessen, das Wassertal ist trotz landschaftlicher Schönheit und romantischer Atmosphäre kein Naturschutzgebiet, sondern eine Holzfällerdomäne. Neben meinem Biwakplatz befindet sich eine eingezäunte Baumschule (Pepiniera), ich habe unterwegs weitere gesehen. Somit scheint es, als ob, trotz des Holzeinschlages, auch ans Wiederaufforsten gedacht wird. Da ich allerdings kein Forstexperte bin, vermag ich nicht zu beurteilen, inwiefern Abholzen und Wiederaufforsten in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Die Ostkarpaten zählen immer noch zu den waldreichsten Gebieten Europas und es bleibt zu hoffen, daß sich daran in Zukunft nicht allzu viel ändern wird.

Die Nacht war recht frisch, obwohl die Übernachtungshöhe doch sehr niedrig war im Verhältnis zu den künftigen Biwaks, die mich oben im Gebirge erwarten werden. Das Überzelt ist beim Abbau vom Morgentau benetzt, um 7.30 Uhr mache ich mich bereits wieder auf die Socken. Ziel soll die ukrainische Grenze am Ende des Wassertals sein. Ich habe vor, zum Grenzkamm aufzusteigen, bis zum nächsterreichbaren Gipfel Comanu (1723 m), wo ich mir einen neugierigen Blick auf den einst so mysteriösen wie auch verbotenen Grenzzaun zum ehemaligen Imperium der untergegangenen Sowjetunion erhoffe, sowie ein Panorama weit hinein in die ukrainischen Waldkarpaten. Die Haltestelle Faina ist nach Novat die größte im Wassertal, sie besteht immerhin aus einem halben Dutzend Gebäuden, wobei auch Übernachtungsmöglichkeiten für Touristen - eine Herberge und mehreren kleinen Hüttchen - dabei sind. Es befindet sich desweiteren ein Posten der Politia de Frontiera (Grenzpolizei) vor Ort, bei der man sich beim Weitergehen in Richtung Grenze zu melden hat. Da ich um die Uhrzeit in Faina keine Menschenseele antreffe, setze ich meinen Weg unangemeldet fort.

Gelegentlich zweigt, insbesondere an den Haltepunkten, ein Nebengleis vom Hauptgleis ab, das aber meist nach wenigen hundert Metern an einem Holzverladeplatz endet. Eine bedeutende Abzweigung hat man kurz nach Novat, wo ein Schienenstrang in das lange Tal des gleichnamigen Baches hineinführt. Jetzt, kurz nach Faina, stehe ich an einer weiteren Flußgabelung. Dort zweigt ein Schienenstrang nach links ab, ein kleines Schild erklärt "Frontiera 7000 m". Ich zögere kurz, folge dann aber der Logik, sprich den weniger rostigen Gleisen und verbleibe somit im Tal der Vaser. Es folgen die Haltepunkte Macarlau und Valea Babei, dazwischen noch die aufgelassene und halbverfallene Station Ivascoaia. In Macarlau bewundere ich ein Haus mit einer Art rumänischen "Lüftlbemalung". Allerdings ist der Inhalt nicht etwa christlich, sondern scheint sich wohl auf einen alten Heldenepos zu beziehen (ein Ritter, der einen Stier erschlägt, eine Gruppe von Adligen nebst König u. ä.). Ab Valea Babei verläuft parallel zum Bahngleis ein ungeteerter Fahrweg, der - vom nordöstlich gelegenen Prislop - Paß (1416 m) kommend - hierherführt. Weiterhin treffe ich an jeder Haltestelle eine Person an, ich werde jetzt aber bereits mit verwunderten Blicken empfangen, denn ein Fußgänger, noch dazu ein Ausländer, scheint sich nicht alle Tage so weit ins Tal hinauf zu verirren.

Ich werde nun auch mehrfach darauf hingewiesen, daß ich mich unbedingt beim hinter der Haltestelle Comanu befindlichen Grenzposten zu melden hätte. Die Vaser hat sich hier oben bereits sichtlich verjüngt und braust gemächlich vor sich hin. Schließlich erreiche ich Comanu, wo ich einen alten Mann und zwei Hunde antreffe. Von hier aus lassen sich schon deutlich der Grenzkamm und mein ersehntes Gipfelziel erspähen. Das Gebäude der Grenzpolizei befindet sich ein paar hundert Meter talaufwärts vom Haltepunkt entfernt. Ich betrete das Hoftor und rufe laut, worauf ein junger Zöllner aus dem Haus spaziert kommt, meine Personalien aufnimmt und mir eine schlechte Botschaft verkündet: der Weitergang in Richtung Grenzkamm ist verboten, ich müsse entweder umkehren oder dem Fahrweg folgen, der von der Grenze weg verläuft und hinauf zum Prislop - Paß führt. Theoretisch wäre dann ein Übergang hinab nach Baile Borsa möglich, von wo aus ich mit dem Bus ins eigentliche Städtchen Borsa gelangen könnte. Borsa ist Ausgangspunkt zum Aufstieg ins Rodna - Gebirge, dessen Durchquerung mein nächstes Vorhaben sein soll. Doch gar so eilig habe ich es nicht, ich möchte zunächst noch mindestens einen Berg im Maramuresch - Massiv besteigen, und die wunderschöne Toroiaga hat mir ja bereits in Faina ihr Antlitz gezeigt. Auch der Zöllner empfiehlt mir, lieber zur Toroiaga hinaufzugehen, als den Weg Richtung Prislop - Paß einzuschlagen, das sei landschaftlich viel attraktiver. Die Toroiaga lag mir bereits vorher schon im Sinn, ich wollte aber unbedingt zuvor noch hinauf zum Grenzkamm, um dort zumindest dem Comanu - Gipfel auf´s Haupt zu steigen. Da der Grenzpolizist jedoch keine Zweifel aufkommen läßt, daß mir die Verhaftung drohe, sollte ich von einem seiner drei dort oben patrouillierenden Kameraden aufgegabelt werden, trete ich etwas enttäuscht den Rückzug an. Die Waldbahn indessen läßt immer noch auf sich warten, aber an jeder Haltestelle wird mir versichert, daß sie heute noch käme.

Als ich Faina wiedererreiche, ist es bereits kurz vor 15 Uhr, und von der Waldbahn ist immer noch nichts zu sehen. Ich folge jetzt dem reichlich vermatschten und zerfahrenen Weg hinauf in das nach Süden führende Seitental. Zwischendurch wird die Strecke entlang des wild schäumenden Baches richtig beeindruckend, der Fahrweg verschwindet für kurze Zeit und weicht einem abenteuerlichen Bergpfad. Das Tal erinnert mich plötzlich an die Javorina Dolina in der Hohen Tatra, einem der ersten Täler, welches ich vor ein paar Jahren anläßlich meines ersten Aufenthaltes in den Karpaten erwandert habe. Stolz hebt sich vor mir der Toroiaga - Gipfel aus dem dunklen, dichten Tannenwald empor, Form und Farben entsprechen den typischen Merkmalen eines Hochkarpaten - Berges, eine elegante Schneekrone ziert die Gipfelzone. Leider bleibt der Pfad nicht schön, sondern wird bald wieder zu einem breiten Fahrweg. Ich passiere eine verlassene Bergarbeitersiedlung mitten im Wald, der Fahrweg gabelt sich immer wieder auf, ich versuche stets, dem Hauptweg zu folgen. Obwohl der Steig selbst und auch der starke Holzeinschlag nicht unbedingt mein Gefallen erregen, bieten sich mir aufgrund Letzterem schon bald entzückende Ausblicke auf das sich weit ausdehnende, stark bewaldete Maramuresch - Gebirge. Ich kann mit den Augen den Verlauf des Grenzkammes verfolgen, und erspähe den tiefen, langen Einschnitt des Wassertals.

Die Toroiaga ist ein durchlöcherter Berg, auf meinem Weg nach oben komme ich an den Stolleneingängen vorbei, die die Bergarbeiter in seinen Rumpf gegraben haben. Unterwegs war mir übrigens ein gleichmäßiges, maschinelles Summen aufgefallen. Es handelt sich hierbei vermutlich um eine Schachtbelüftung. Man sollte sich trotz dieser Tatsachen nicht davon abhalten lassen, die Toroiaga dennoch zu besteigen, denn man wird mit einer wunderbaren Gebirgslandschaft und einmaligen Panoramen reichlich belohnt, die einem die Tätigkeiten im Inneren des Berges fast vergessen lassen. Da sich der Weg wieder und wieder aufgabelt, kommt, was kommen muß: ich lande dreimal auf einem Holzabfuhrweg, bis ich schließlich die Geduld verliere, und mich querfeldein durch den steilen Bergwald hinaufarbeite. Nach einem kurzen, aber äußerst unangenehmen und anstrengenden Kampf mit der dichten Vegetation gelange ich oberhalb einer Lichtung endlich auf einen breiteren Schotterweg, der nun jenseits der Baumgrenze direkt in den Toroiaga - Paß hineinführt. Die Paßhöhe bietet eine herrliche Aussicht. Zum Einen erstreckt sich das Panorama gen Norden weit über´s Maramuresch - Gebirge hinweg bis tief hinein in ukrainisches Territorium, zum Anderen kann ich nun endlich nach Süden blicken, wo sich mir ein verblüffendes Bild präsentiert. Das sich nun direkt vor mir aufbäumende Rodna - Massiv trägt noch reichlich Schnee und erscheint somit im Vergleich mit den Maramurescher Bergen richtig hochalpin. Tief unter meinen Füßen befindet sich die Ortschaft Baile Borsa. Von oben herab sieht alles niedlich aus, aber ich habe gehört, daß Baile Borsa eine gesichtslose Bergarbeiterstadt sein soll. Auch die verlassene Siedlung, die ich vorhin passiert habe, erscheint von hier oben aus betrachtet wie eine romantische Waldsiedlung. Leider fahren auf der Paßhöhe auch diverse verrostete Metallteile herum, ein Relikt entweder der Minenarbeiter oder des Militärs, so meine Mutmaßung. Trotzdem ist der Platz hier oben traumhaft und ich schlage unter einer goldleuchtenden Abendsonne mein Zelt auf. Später erhalte ich noch Besuch von einem alten Schäfer und dessen beiden Hunden, die sich auf dem Weg zur weiter unten gelegenen Stina (rumän. Schäferei) befinden.

Die Angst vor einer saukalten Nacht auf immerhin über 1800 Metern war unberechtigt, ich schwitze beim Aufwachen zwar nicht gerade, die Morgenluft erbarmt sich dennoch Meiner mit einer erträglichen Milde. Um 9.15 Uhr mache ich mich auf den Weg zum Toroiaga - Gipfel. Es ist heute sehr wolkig und es sieht auch verdammt nach Regen aus. Da die Wolken aber sehr hoch hängen, ist die Aussicht auf die umliegenden Bergmassive dennoch gewährleistet. Von meinem "Hochsitz" auf 1930 Metern aus versuche ich mir mit Hilfe meines mitgeführten Buches einen Überblick über die umliegenden Massive zu verschaffen. Im Süden dominiert natürlich das Rodna - Gebirge, wo sich westlich Tibles, Gutii, und Oaserberge anschließen. Auf der gegenüberliegenden Seite wird das Panorama in erster Linie vom Maramures - Gebirge eingenommen, nördlich und östlich davon kann ich die Wellen der Ukraino - Karpaten sehen. Im Vergleich zu den Südkarpaten sind die Ostkarpaten allgemein im Durchschnitt um gut zwei- bis dreihundert Meter niedriger. Das höchste Massiv der Ostkarpaten ist das Rodna - Gebirge, aus dem zahlreiche Gipfel über die 2000 - Meter - Marke herausstreben. Auch das Maramureschgebirge zählt in den Ostkarpaten durchaus noch zu den "Hohen". Dessen höchste Gipfel findet man allerdings nicht etwa im Hauptkamm, welcher übrigens mit dem Grenzverlauf identisch ist, sondern in den Seitenkämmen, sie bleiben aber allesamt unter der 2000er - Marke. Die Ausmaße der Maramurescher - Berge können sich sehen lassen. Sie betragen immerhin 80 Kilometer in der Länge und 40 Kilometer in der Breite, über Luftlinie gemessen. Die drei sonst noch erwähnten Gebirgsteile sind wesentlich kleiner und auch niedriger. Alle vier haben gemeinsam, daß sie stark bewaldet sind.

Nicht nur durch seine auffallend großen Altschneefelder und seine unübersehbar größere Höhe fällt das Rodna - Gebirge besonders ins Auge. Seine für ein Ostkarpatenmassiv verhältnismäßig schroffen Kämme recken sich auch weit über die Baumgrenze hinaus. In unmittelbarer Nähe meines Aussichtsstandes erregen der zwischen Prislop - Paß und der Talschaft Baile Borsa sich einschiebende Jupania - Kamm (Hauptgipfel 1853 m), sowie der von der Toroiaga durch einen Sattel getrennte, viergipfelige Noviciorul - Kamm meine Aufmerksamkeit. Die Toroiaga selbst hat außer dem Hauptgipfel noch zwei Nebengipfel, die ich nun überschreite, um in den darunterliegenden, begrasten Sattel zu gelangen. Ein weiterer Kamm streckt sich in Richtung Südwesten, tief unter mir zieht sich das lange Flußtal der Novat dahin. Der Noviciorul - Kamm, den ich nun begehe, ist merklich niedriger, als die Toroiaga, bleibt aber dennoch aussichtsreich oberhalb der Baumgrenze. Den ersten Gipfel umgehe ich, besteige aber die drei folgenden, wobei ich den dritten Gipfel nicht etwa überschreite, sondern von diesem aus wieder in den Sattel zwischen diesem und der vorhergehenden Erhebung zurückkehre Ich habe einen Schäferpfad entdeckt, dem ich nun in etwa nördlich um den Berg herum folge, denn schließlich beabsichtige ich ja, wieder ins Wassertal zurückzukehren. Die Orientierung ist nicht allzu schwer, denn das Wassertal ist gut erkennbar am ausgiebigen Holzeinschlag auf seinen Hängen, Zeichen für die dort betriebenen Tätigkeiten. Ich muß allerdings querfeldein absteigen, was hier jedoch einigermaßen angenehm vonstatten geht. Das Bachtal, dem ich folge, ist wirklich schön und auch relativ gut begehbar. Auch der Wald weiter oben war von hochstämmigen, angenehm auseinanderstehenden Tannen bewachsen, ich mußte mich also nicht durch´s Unterholz schlagen. Nach geraumer Zeit stoße ich auf einen bescheidenen Pfad, der schließlich in einen Holzabfuhrweg mündet. Dieser bringt mich auf den breiten Forstweg, welcher nach Faina hinunter führt. Eigentlich hatte ich spekuliert, daß ich wohl etwas weiter talabwärts rauskommen würde, vielleicht in Botizu oder so. Um so besser, daß ich jetzt doch in Faina bin, denn so dauert die Zugfahrt zurück nach Viseu de Sus um so länger! Ich hoffe, ich habe Glück und der Zug ist noch nicht durch.

An einem Rastbänklein in Faina treffe ich ein älteres Ehepaar. Der Mann spricht mich zunächst mit fließendem Englisch an, wechselt jedoch das Idiom, als er merkt daß ich Deutscher bin. Auch deutsch spricht er fließend, wohingegen er sich mit seiner Frau in rumänisch unterhält. Beide sind in Rumänien geboren und aufgewachsen, leben aber schon seit langer Zeit in Israel. Die Frage des Mannes, aus welcher Stadt in Deutschland ich käme, bringt eine kleine Überraschung: Singen am Hohentwiel ist ihnen bestens bekannt, sie haben schließlich schon viermal auf dem Laurentiushof in Hilzingen, einer kleinen Gemeinde etwa 10 Kilometer von Singen, Urlaub gemacht. So trifft man sich nun also in Rumänien im Wassertal. Auch eine Gruppe von jungen Thüringern sowie Frank aus Sachsen sind zugegen. Ich habe saumäßiges Glück. Knapp 10 Minuten nach meinem Eintreffen in Faina zuckelt die alte Cozia - Dampflok, aus Richtung Comanu kommend, die Schienen entlang. Wie eine Spielzeuglok scheint sie auf den Gleisen zu hüpfen, während sie unter weit hörbarem Pfeifen ihre rußigen Dampfwolken hinauf in den regengrauen Himmel schickt.

Unsere Rastbank befindet sich einige hundert Meter vor der eigentlichen Haltestelle, der Zug hält aber dennoch, und wir steigen zunächst in den geschlossenen Waggon hinter der Dampflok. Alle weiteren Waggons werden erst durch längeres Rangieren an der Haltestation angehängt. Der geschlossene Waggon verfügt sogar noch über einen uralten, halbverrosteten Kanonenofen. Am Haltepunkt steigen wir in den offenen Passagierwaggon um, man möchte schließlich die Aussicht und die frische Luft genießen. Seit Verlassen des Toroiaga - Gipfels hatte ich immer wieder leichte und somit erträgliche Regenschauer über mich ergehen lassen müssen. Während der Zugfahrt nehmen die Niederschläge an Stärke zu, doch jetzt habe ich ein Dach überm Kopf! Die Fahrt mit der Waldbahn ist echt ein kleines Abenteuer, besonders dann, wenn der Zug tonnenweise mit Baumstämmen beladen wird, oder, was auch gelegentlich vorkommen soll, wenn die Lok wieder einmal aus den Schienen springt. Die Rückfahrt nach Viseu de Sus kann sich dann unter Umständen um einige Stunden verlängern und ist mit zig Tonnen Zusatzgewicht auch nicht mehr ganz ungefährlich. Das Rangieren und Steuern des vollbelandenen Zuges verlangt viel Umsicht und Verantwortung vom diensthabenden Lokführer. Ein bestimmtes Pfeifsignal bedeutet "Alle sofort vom Zug springen", welches aber glücklicherweise bislang noch nie zur Anwendung gekommen sein soll.

Heute ist die Rückfahrt jedoch relativ unspektakulär, denn es gibt nicht viel Holz für den Abtransport. Die wenigen Baumstämme, die am Rand des Gleiskörpers liegen, werden kurzerhand von einem Dutzend Waldarbeitern per Hand auf den Waggon gehievt, ohne Rücksicht auf die Bandscheiben! Das Bähnlein bewegt sich im Bummeltempo talabwärts, und ständig springen Waldarbeiter auf oder vom fahrenden Zug, obwohl Schilder an den Haltepunkten dies untersagen. Als ungeübter Tourist sollte man diese Art des Zu - bzw. Abstiegs tunlichst unterlassen, es lohnt sich nicht, mit amputierten Gliedmaßen aus dem Urlaub zurückzukehren! Nach gut dreieinhalb Stunden Fahrt durch den verregneten Wald, die Düfte der nassen Tannen und der Dampfwolken der Cozia 1 noch in der Nase, fahren wir in den Bahnhof von Viseu de Sus ein. Hier befindet sich auch eine Holzfabrik, wo die geladenen Baumstämme in Empfang genommen werden. Wie gesagt dauert die Fahrt für gewöhnlich etwas, oder auch viel länger, wenn größere Mengen an Holz geladen werden, unterwegs umgestürzte Bäume vom Gleis zu räumen sind, oder eine technische Panne zu beheben ist.

Nach Ankunft in Viseu de Sus begebe ich mich erst mal mit Frank aus Dresden, der ebenfalls mit auf dem Waggon saß, in ein Restaurant. Frank ist bereits das fünfte Mal in Rumänien, die Waldbahn nimmt er sozusagen jedesmal mit, denn sie liegt für ihn nahezu am Weg. Die meisten Rumänienreisenden, die aus den Gebieten der ehemaligen DDR kommen, reisen für gewöhnlich über Oradea und/oder Satu Mare ins Land ein, da ist es dann bis in die Maramuresch nicht mehr weit. Frank ist mit seinem Auto unterwegs, und er macht mir den Vorschlag, ihn zu begleiten. Er kennt einen guten Übernachtungsplatz, auf dem er am Vortag bereits biwakiert hat, wo ich auch ohne Probleme mein Zelt aufstellen könnte, und ich mich somit nicht bemühen müßte, in Viseu de Sus eine Übernachtung zu suchen. Ich bin sofort einverstanden und wir machen uns gleich nach dem Essen auf den Weg. Auf engen Landstraßen werden wir immer wieder von frei herumlaufenden Kühen, Schafherden und anderem Gevieche, oder von langsam vor sich herzuckelnden Pferdefuhrwerken ausgebremst, die Ortschaften, die wir passieren, sind allesamt wunderschön und ständig grüßen uns Leute vom Straßenrand. Hinter einem besonders schmucken Dorf, in dem ich auch zahlreiche Maramureschtore (regionstypische, großartige Holzschnitzkunst) gesehen habe, biegen wir rechts in einen Feldweg ein, der steil auf einen aussichtsreichen Grashügel hinaufführt. Phantastisch die Aussicht auf´s unter uns liegende Dorf, das sich in der jungen Dämmerung zu unseren Füßen ausbreitet, und von dem die typischen Laute des Landlebens zu uns hinaufdringen. Ich höre eine Ziege meckern, krähende Hähne, gackernde Hennen und schnatternde Gänse, eine Kuh läßt ein ausgedehntes Muhen ertönen, und natürlich bellen irgendwo Hunde. Zur anderen Seite hin, allerdings in etwas größerer Entfernung, ist ein weiteres Dorf auszumachen. Dieses heißt Bogdan Voda, während das direkt unter uns liegende den Namen Bocicuel trägt.

Als wir kurz nach 8 aus unseren Schlafsäcken kriechen, sind die Bewohner schon längst auf den umliegenden Feldern beschäftigt. Frank fährt mich zurück nach Viseu de Sus, wo wir uns verabschieden. Während er ins Oaserland weiterfährt, wo er eine befreundete Familie besuchen will, begebe ich mich mit dem nächsten Bus nach Borsa. Auf satte 15 Kilometer dehnt sich Borsa am Fuße des Rodna - Gebirges aus, und ist trotzdem noch Kleinstadt mit ländlichem Einschlag geblieben. Bausünden aus der Ceausescu - Aera halten sich hier in Grenzen, es reihen sich fast ausschließlich einstöckige Landhäuser entlang der Hauptstraße auf, in deren geräumigen Gärten gackerndes Federvieh umherstolziert oder auch schon mal eine Ziege als Rasenmäher dient. Nachdem ich in einem Straßenrestaurant zu Mittag gegessen und mich im nächstbesten Alimentar für die kommenden vier Tage mit Verpflegung eingedeckt habe, kann es endlich losgehen. Die Durchquerung des Rodna - Gebirges soll, ohne die Großartigkeit der anderen Tourenziele allzu sehr schmälern zu wollen, das Highlight meiner diesjährigen Rumänienreise sein. Mein Aufbruch findet zwar erst am frühen Nachmittag statt, da ich aber Anfang Juni den Vorteil der langen Sonnenstunden ausnutzen kann, dürfte die Zeit ausreichen, um nach Gewinnung des Pietrosu - Gipfels und der Überschreitung zweier weiterer Berge trotzdem noch vor Einbruch der Dunkelheit bis in den zum Zelten geeigneten Sattel Tarnita la Cruce zu gelangen.

Mächtig baut sich über der Ortschaft der Rodna - Hauptgipfel Pietrosu auf, der den gen Norden ausfahrenden Nebenkamm des Gebirges scheinbar nahezu vollständig für sich in Anspruch zu nehmen scheint. Zunächst geht´s hinter´m Krankenhaus auf ungeteerten Dorfgassen beständig aufwärts. Ich bewundere die schönen, traditionellen Häuser, die sich fast alle in einem ordentlichen Zustand befinden. Auch wird neu gebaut, gleichfalls mit viel Holz und in bodenständiger Architektur. Gelegentlich bellen mir ein paar Hofhunde nach, sie haben aber nicht die Schärfe und Aggressivität der berüchtigten Hirtenhunde, weshalb ich mich nicht weiter um ihr Getue kümmere. Vor mir geht ein steinaltes Ehepaar. Als ich die Beiden einhole, ergibt sich ein kleines Gespräch. Mit alten Leuten mache ich in Rumänien generell sehr erfreuliche Erfahrungen, sie sind meist sehr herzlich und auch immer wieder darüber erstaunt, daß ein Ausländer von so weit her in ihr Land reist, und sie freuen sich selbstverständlich auch darüber, wenn dieser ihnen erklärt, daß es ihm hier gefällt. Im Rumänischen verabschiedet man sich normalerweise nicht nur einfach mit einem "La Revedere", also Auf Wiedersehen. Meist werden noch liebe Wünsche mit auf den Weg gegeben, wie "viele Jahre", "Gesundheit" "alles Gute", "bleiben Sie mit Wohlsein", "guter Weg" o. ä. Je weiter ich aufsteige, desto mehr ziehen sich die Gehöfte auseinander und machen steilen Bergweiden Platz.

Der morgendliche Sonnenschein ist zwischenzeitlich düster - grauen Wolken gewichen, und der Pietrosu gebärdet sich mit seiner korpulenten Erscheinung nun schon beinahe bedrohlich. Der Blick zurück ins Tal über das langgestreckte Borsa und zum dahinter aufstrebenden Maramuresch - Gebirge lohnt bereits nach kurzer Wegstrecke. Sehr gut ist dort drüben auch der Toroiaga - Gipfel auszumachen. Auch die Wälder des Rodna - Gebirges bleiben von der Abholzung nicht verschont. Ein auffallend breiter Waldstreifen verbleibt jedoch zwischen Holzeinschlag und Latschenzone. Hier wurde ganz offensichtlich die winterliche Lawinengefahr berücksichtigt. Man läßt es wohl nicht erst auf den Katzenjammer à la Galtür ankommen, der dann die Konsequenz mit sich bringt, im nachhinein häßliche Lawinenverbauungen in die Landschaft pflanzen zu müssen, wenn das Kind bereits im Brunnen liegt.

In weit ausladenden Serpentinen zieht ein Fahrweg bis über die Baumgrenze. Dort erreiche ich die Wetterstation. Man sollte sich darunter nicht etwa ein unschön - futuristisches Gebäude vorstellen. Die Station ist mit langgezogenem Dach mehrstöckig aus Holz gebaut und macht den Eindruck einer zünftigen Bergbaude. Das gelbe, kleine Holzhäuschen in der Nähe ist die Hütte des Salvamont, also des rumänischen Bergrettungsdienstes. Sie ist um diese Jahreszeit noch unbesetzt. Hier oben ist momentan nur der Wart von der meteorologischen Station anwesend. Er soll für drei Tage die letzte Person sein, mit der ich zusammentreffe.

Ab der Wetterstation beginnt der eigentliche Bergpfad, der sich durch einen prächtigen Felskessel zur Kammhöhe des Pietrosu emporschlängelt. Mitten im noch schneegefüllten Karboden befindet sich der schöne Bergsee Lacul Iezer, der gleichfalls zu einem guten Teil von Eis und Schnee bedeckt ist. Der Pfad durch die Hänge des durch einen ehemaligen Gletscher geformten Kessels verschwindet größtenteils unter noch weit ausgedehnten Altschneefeldern, welche mir einen recht beschwerlichen Aufstieg einbrocken. Da ich offensichtlich der erste Besucher in der beginnenden Sommersaison bin, muß ich selbstverständlich selbst spuren. Einmal breche ich bis zur Hüfte in den Schnee ein, und ich muß mich mit Maximalkraft aus meiner mißlichen Lage befreien, wobei ich aufgrund meiner unglücklichen Position obendrein noch vorsichtig sein muß, um nicht etwa beim Herausstemmen kopfüber das Schneefeld hinunterzustürzen. Mein über zwanzig Kilo schwerer Rucksack erleichtert die Sache ungemein, sowohl, was meine Bewegungsfreiheit anbelangt, als auch bezüglich der erforderten Kondition. Ich lasse mich aber nicht kleinkriegen, und nach einem langen, harten Kampf überwinde ich schließlich die Wächte des Kammgrates und erreiche endlich den Kammweg, der mich in wenigen Minuten problemlos zum Pietrosu - Gipfel bringt. Mit seinen 2303 Metern ist er der höchste Gipfel der Ostkarpaten und bietet dementsprechend ein umfassendes Panorama über nahe und weiter entfernte Massive der nördlichen und zentralen Ostkarpaten. Dicke, graue Wolken trüben die Aussicht nicht, weil sie weit oberhalb der Gipfel hängen. Im Süden befindet sich das Calimani - Gebirge. Über diesem ziehen aus der düsteren Wolkendecke, wie bei einem verschmierten Monet - oder van Gogh - Gemälde, graue Nebelstriemen herab, ein Zeichen, daß es dort regnet.

Auf dem Pietrosu - Gipfel befindet sich eine aufgegebene, kleine Wetterstation. Das Dach ist beschädigt und im Innern stapelt sich gut 1 Meter Schnee. Als ich den Gipfel erreichte, war es 18.15 Uhr, ich habe aber noch zwei weitere Berge zu überschreiten, ehe ich den Lagerplatz Tarnita la Cruce erreichen soll. Also kehre ich zurück zu meinem Rucksack, den ich unterhalb des Gipfelaufbaus zurückgelassen habe, und gehe den nächsten Gipfel an. Links unter mir reihen sich die drei winzigen Taurile Buhaiescului (Buhaiescu - Seen) wie Perlen entlang des niederstürzenden Wildbaches und auch die Felsformationen des Turnul - Rosu - Kammes imponieren. Der Pietrosu hatte es mir zuvor schon nicht gerade leicht gemacht, aber auch die markante Rebra - Spitze (2221 m) scheint über meinen einsamen Besuch nicht sehr erfreut. Auch hier muß ich mich wiederum durch steile Schneefelder und in Gras - Fels - Kletterei mühevoll den Gipfelsieg erarbeiten. Der dahinter folgende Buhaiescu Mare (2119 m) hingegen ist vergleichsweise nur noch ein niedlicher Spaziergang. Der Buhaiescu Mare ist der Angelpunkt zwischen dem nach Norden gerichteten Pietrosu - Kamm und dem eigentlichen Rodna - Hauptkamm, als Gipfel besitzt er wenig Prägung. Um 20.15 Uhr erreiche ich endlich Tarnita la Cruce ("Sattel beim Kreuz"). Mir bleibt somit immer noch über eine Stunde, um bei Tageslicht die Umgebung dieses herrlichen Platzes genießen zu können. Aufgrund des kalten Windes muß ich aber unter den Zeltabsiden kochen. Nachts muß ich mal vor´s Zelt, wo sich mir ein Anblick bietet, aus dem Bergsteigerträume sind: Unter einem schummrigen Vollmond ragen schneegescheckte Gipfel in den erhellten Nachthimmel hinauf. Die Kälte und der Wind treiben mich dennoch rasch wieder zurück in den wärmenden Schlafsack.

Der folgende Morgen wartet zunächst mit Nebel auf, der sich anfangs nur gelegentlich lichtet, dann jedoch entzückende Blicke hinunter in herrlich grüne Hochtäler frei macht. Wie dünne Silberfäden schäumen dort Bergbäche die Felsen und Hochweiden hinunter, ihr entferntes Rauschen dringt bis zu mir hinauf, da und dort erspähe ich eine einsame Stina, darunter erstreckt sich dichter Wald, der bis in´s Tal hinunterreicht. Wenige Meter vor mir huscht ein Murmeltier über´s Schneefeld. Von den vielen Gemsen, die im Felskessel des Lacul Iezer vorkommen sollen, habe ich gestern übrigens keine Einzige zu Gesicht bekommen. Vor lauter Nebel gerate ich beinahe auf einen südwärts ziehenden Nebenkamm, ich werde jedoch durch den Kompaß auf den Fehler aufmerksam. Gelegentlich höre ich Hundegebell, die Schafherden grasen um die Jahreszeit aber noch gute ein- oder mehrere hundert Höhenmeter weiter unten, weshalb ich von Konflikten mit deren wütigen Wächtern vorerst verschont bleibe.

Während ich die beiden Gipfel Obirsia Rebrei (2052 m) und Varful Repede (2074 m) problemlos überschreite, tun sich bei der Negoiasa Mare (2041 m) unerwartete Schwierigkeiten auf. Da ich auf Anhieb keinen Pfad finde (dieser kann sowieso nicht allzu ausgeprägt sein, da der Berg meistens umgangen wird), steige ich einfach drauflos. Dabei muß ich in rutschig - nassem Gras- Felsglände sehr auf der Hut sein. Zudem gerate ich noch auf einen mit dichten Latschen überwucherten Vorgipfel, so daß ich mich nun kräftezehrend durch dieses unangenehme Buschwerk schlagen muß. Kurz und Gut muß ich allerhand Aufwand betreiben, um den Gipfel dieses doch eher unbedeutenden Berges zu erreichen. Der Abstieg führt mich durch ein totes Latschenfeld, es sind nur noch die aschgrauen Gerippe des Latschenwaldes übrig. Inzwischen hat sich der Nebel gänzlich verzogen, und ich kann die herrliche Aussicht auf den zurückliegenden Pietrosu - Kamm und die eindrucksvolle Rebra - Spitze genießen. Auch vor mir erheben sich beeindruckende Berge.

Ich habe mich zu einer Vesperpause im Gras niedergelassen und erwäge gerade die Besteigung des sich nördlich des Hauptkammes emporreckenden Puzdrele - Gipfels (2189 m), als plötzlich fünf Hirtenhunde am Schneefeld unterhalb des Gipfelzustieges auftauchen und mir richtiggehend den Weg streitig machen wollen. Weit und breit sind weder Schafe noch Hirten zu sehen, die fünf Burschen haben offensichtlich Wandertag. Ich verzichte auf den Puzdrele und folge der Wegmarkierung, die den Laptelui Mare (2172 m), welcher auch unter dem Namen Aniesul Mare geführt wird, nördlich umgeht. Ich mache mir hiermit keinen großen Gefallen, denn ich gerate auf ein gefährlich steiles Schneefeld, auf welchem ich mit größter Sorgfalt und entsprechendem Energieaufwand Spuren treten muß. Da ich keinen Pickel bei mir habe, könnte ein Sturz verhängnisvolle Folgen haben. Die Überschreitung des Gipfels wäre sicherer gewesen und ich hätte mich damit auch einfacher getan. Als ich schließlich unversehrt, aber reichlich abgekämpft den bequem zu besteigenden Gipfel Galatul (2048 m) erreiche, und meinen Blick zurück zu Puzdrele und Laptului schweifen lasse, bereue ich es, nicht wenigstens einen dieser besonders markanten Gipfel "mitgenommen" zu haben. Es ärgert mich insbesondere in Hinblick darauf, wie schwer ich mich mit der Umgehung des Laptul getan habe, und wie offensichtlich leicht dessen Überschreitung gewesen wäre. Vom Galatul - Sattel (1975 m) aus ist es schließlich nicht mehr weit in den Gargalau - Sattel (1925 m), der sich zum Zelten besonders eignet. Aus den nach Süden in sanften Terrassen abdachenden Wiesen sprudeln zahlreiche kleine Quellen, und man ist dort verhältnismäßig gut vor Winden geschützt. Vom Sattel aus fällt insbesondere der spitzförmige Corangisu (1987 m) ins Auge, der sich in einem südwärts ziehenden Nebenkamm befindet.

Nachts erwache ich, aus Richtung der unter mir liegenden Stina ist Hundegebell zu hören. Da muß wohl irgendein Eindringling unterwegs sein. Ich schlafe wieder ein. Plötzlich ein Krachen, ich fahre hoch wie eine Rakete! Die Horrorvision wird wahr, ein Bär hat mit einem mächtigen Prankenhieb das Zeltdach durchschlagen! Ich greife zum neben mir liegenden Pfefferspray, drücke drauf, verdammte Scheiße, funktioniert nicht! Der Bär ist jetzt schon über mir, sein stinkender Atem schlägt mir ins Gesicht, er hat sich bereits auf mich geworfen und hält mich jetzt in der Umklammerung! Komisch, es tut überhaupt nicht weh... Ich wache auf, das Zeltdach ist unversehrt und auch das Pfefferspraydöschen liegt unbenutzt neben mir. Gott sei Dank, nur ein Traum! Ein Traum, der mich so oder ähnlich immer wieder auf meinen Karpatentouren heimsucht, denn das Bangen um das Erscheinen von Meister Petz ist hier ständiger Begleiter!

In den rumänischen Karpaten sollen derzeit noch etwa 6000 Exemplare des Ursus Arctos, so der lateinische Name des Karpatenbraunbären, ihre Heimat haben. Besonders zahlreich ist sein Vorkommen in den tiefen Wäldern der Ostkarpaten, und zwar weniger im Hochwald oder gar in der alpinen Zone, als vielmehr überwiegend in den nahrungsreichen Mischwäldern der Vorberge. Man muß die Gefahr, die von diesen Tieren ausgeht, dennoch differenziert sehen. Die wenigsten Karpatenwanderer werden einen Bären je zu Gesicht bekommen, denn normalerweise meiden diese mächtigen Gesellen den Menschen. Sollte es dennoch zu einem Zusammentreffen der beiden Spezies kommen, so ist noch lange nicht gesagt, daß dieses gewaltsam verläuft. Wenige Situationen können dennoch gefährlich werden: bei einem Muttertier, das mit Jungen unterwegs ist, sollte man niemals zwischen die Mutter und den Nachwuchs geraten. Ein überraschter Bär, der zudem keine unmittelbare Fluchtmöglichkeit hat, könnte durchaus zum Angriff übergehen. Gewisse Bären, die bereits Kontakt mit Menschen gehabt haben, scheuen diesen nicht mehr und könnten vom Geruch der Nahrungsmittel angelockt werden. Als Beispiel hierfür gelten die nächtlichen Plünderungen der Müllcontainer in den waldnahen Stadtvierteln von Brasov. Aber auch dort ist zu beobachten, daß sich der Bär um den Menschen recht wenig kümmert, und es wirklich nur auf den Inhalt der Container abgesehen hat. Die nächtlichen Bärenbesuche in Brasov sollen bereits zu einer kleinen Attraktion geworden sein, und Meister Petz scheint sich auch durch wild fotografierende Touristen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, ernsthafte Unfälle sind mir bislang nicht bekannt.

Es ist das erste Mal, daß ich eine Abwehrwaffe in Form von Pfefferspray mit mir führe. Dieses soll mich jedoch nicht nur etwa vor Bären schützen, es gibt schließlich noch andere Tiere, die unter Umständen sehr ungemütlich werden können, wie z.B. Wildschweine und ganz besonders die Hirtenhunde. Gegenüber Letzteren würde ich den Pfefferspray allerdings nur in einer extremen Notsituation anwenden, d. h., wenn ich bereits gebissen worden bin und eine Meute mich zu Fall gebracht hat und mich zu zerreißen droht. Man sollte keinesfalls wie ein wilder Sprayer durch´s Gebirge laufen, die Hunde tun schließlich nur ihre Pflicht, und werden normalerweise von den stets präsenten Hirten zurückgerufen oder zumindest von einem echten Angriff zurückgehalten. Das Pfefferspray ist vielmehr eine psychologische Beruhigung, und so soll es sich auch ergeben, daß das Döschen im Verlauf meines Rumänienaufenthaltes unbenutzt in der Hosentasche verbleibt.

Im Zelt ist es bereits hell, die lauten Rufe und schrillen Pfiffe der Schäfer und das Bellen ihrer Hunde schallen durch die Morgenluft. Ich bin schon längst wach, aber die Kälte hält mich immer noch unschlüssig im molligen Schlafsack. Etliche Male schon bin ich in den Karpaten so aufgewacht, es sind die Momente, an die ich zu Hause oft mit Sehnsucht zurückdenke. Schließlich schaffe ich es, um 8.30 Uhr wieder abmarschbereit zu sein. Auch heute präsentiert sich das Wetter reichlich bewölkt, jedoch ohne Nebel. Bei Ankunft auf dem ersten Gipfel des Tages, dem Varful Gargalau (2159 m) ist bereits ein gutes Stück Arbeit vollbracht. Er ist ein massiger Berg, von keiner allzu eleganter Form und dennoch einer der bedeutenderen Rodna - Gipfel. Die heutige Etappe steht übrigens ganz im Zeichen des mächtigen Ineu (dt.:Kuhhorn). Mit 2279 Metern ist er der zweithöchste und meiner Meinung nach der schönste Gipfel im Rodna - Gebirge. Mein Weg zieht genau auf seine Richtung und sorgt für eine angemessene Annäherung, wobei der eindrucksvolle Anblick seiner schrofigen Westwand mit jedem Näherrücken mehr imponiert.

Ich überschreite die Gipfel La Cepe 2101 m), Omul (2134 m) und Cisa (2036 m), wobei mir der Corangisu mit einer attraktiven Rückansicht weiterhin als ein besonders auffälliger Geselle unter den Rodna - Gipfeln erhalten bleibt. Ab der Coasta Neteda ( 2060 m) bekommt der Steig eine anregende Ausgesetztheit, bei der gelegentlich auch mal Hand angelegt werden muß, was geübten Bergwanderern allerdings keine Schwierigkeiten bereiten dürfte. Dennoch bin ich ganz froh, daß dieses Wegstück bereits schneefei ist. Am Grat hängen, wie weiße Mauern, eindrucksvolle Wächten, die Einsicht in die Ineu - Westwand ist jetzt exzellent. Ich stehe im Ineu - Sattel und überlege, ob ich für den Gipfelaufstieg das Gepäck zurücklassen soll. Bis ich mich aber endlich entschlossen habe, wo ich denn den Rucksack zurücklassen soll, habe ich bereits das Meiste geschafft, weshalb ich schließlich den Tornister ganz mit nach oben schleppe. Kurz bevor ich das Gipfelkreuz erreiche, sehe ich plötzlich einen Wandersmann, eine ähnlich große "Wolke", wie ich auf seinem Rücken tragend, aus der Gegenrichtung in den Sattel hinaufsteigen. Der brüllt schon laut los, als er mich sieht. Wir verbringen eine Weile zusammen auf dem Gipfel, er ist der erste Mensch seit dem Wetterwart am Pietrosu, dem ich seit drei Tagen aus nächster Nähe begegne. Sein Spitzname ist "Blonder" (Nomen est Omen), er kommt aus Suceava und er hat schon Einiges hinter sich. Calimani, Suhard - Berge, und jetzt kommt er vom Rotunda - Paß, der eigentlichen Begrenzung des Rodna - Gebirges im Osten, um die Durchquerung in Gegenrichtung anzugehen.

Vom Ineu aus kann ich ein letztes Mal auf den gesamten von mir zurückgelegten Weg zurückblicken. Ganz hinten versteckt sich der Pietrosu hinter wilden Wolkenwirbeln. Ich wünsche dem "Blonden" noch viel Glück und begebe mich wieder hinunter in den Sattel. Mein letztes Nachtlager im Rodna will ich bei den nördlich unterhalb der Saua cu Lac (Seensattel, 2140 m) gelegenen Lala - Seen aufschlagen. Auf einem südwärts sich erstreckenden Nebenkamm erheben sich allerdings noch zwei attraktive Gipfel. Ich lasse diesmal meinen Rucksack oberhalb des Seensattels zurück und überschreite zunächst den Varful Ineut (2222 m), um über einen attraktiven Gratweg auf den zweigipfeligen Varful Rosu (2113 m) zu gelangen. Letzterer ist vom Ineu - Sattel aus gesehen der formschönere Berg, wohingegen vom Ineut aus die Sicht auf den östlichen, beeindruckend steilen Grasrücken des Kuhhorns, sowie auf den sich nun stark absenkenden Rodna - Hauptkamm in Richtung Rotunda- Paß besser ist. Dafür bietet der Varful Rosu einen weiten Blick über die südlich des Rodna sich erhebenden Bergketten und Talsenken, sowie zu den südlichen Rodna - Nebenkämmen. Die zentralen Ostkarpaten liegen sozusagen wie ausgepackt vor mir. Vom zurückliegenden Hauptkamm ist allerdings wenig zu sehen, da das mächtige Kuhhorn die Aussicht in diese Richtung verdeckt. Bei der Rückkehr umgehe ich den dickbäuchigen Ineut weglos im Westen. In den Karpaten kann man sich eben doch oft (aber nicht immer!) Dinge leisten, die man in den Alpen lieber bleiben läßt.

Eine Wollgraswiese oberhalb des Lacul Lala Mica (1932 m) bietet mir einen Zeltplatz in einer Umgebung, wie sie schöner kaum sein kann. Direkt über mir schießt die Ostflanke des Ineu gen Himmel, zu dessen Füßen, halbschräg unter mir, von einem gischtenden Bach gespeist, der Bergsee Lala Mica noch immer teilweise unter Schnee und Eis liegt. Der Sattel Saua cu Lac über mir ist von einer dicklippigen Wächte bedeckt, und ein Wildbach rauscht wie ein seidener Faden das Hochtal hinab. Ehe ich zum gemütlichen Teil des Abends (Kochen, Entspannen, Bergruhe genießen) übergehe, erkunde ich noch ein wenig das Gelände, wobei ich inmitten von Alpenrosenflechten und Latschenbewuchs auf einen weiteren, winzigen See stoße. Am Absatz einer Gletscherstufe stehend, über die weiter drüben auch der Bergbach als Kaskade hinunterstürzt, kann ich auf den Lacul Lala Mare herabblicken, der schon gänzlich schneefrei ist, und mich am Panorama über den waldreichen, einsamen Taleinschnitt in Richtung Rotunda - Paß ergötzen. Ich habe hier den schönsten Lagerplatz auf meiner gesamten Tour gefunden, und da es ausnahmsweise mal windstill ist und eine relativ angenehme Temperatur herrscht, harre ich heute bis Einbruch der Dunkelheit vor dem Zelt aus. Ich blicke in tiefer Zufriedenheit hinauf zum Ineu, und plötzlich meine ich zu erkennen, woher die deutsche Bezeichnung Kuhhorn resultiert. Dieser Eindruck entsteht nämlich genau aus meiner Perspektive heraus, wo der Ineu das linke Horn, der dazwischenliegende Sattel die Stirn des Kuhkopfes, und der rechts wieder emporziehende Kammverlauf das andere Horn bilden. Während ich so vor meinem Zelt sitze, versuche ich, sämtliche Geräusche in meiner Umgebung zu identifizieren: das Bachrauschen , das leichte Sausen eines sanften Windes, dazu zwitschern Vögel, und gleichmäßig faucht mein Gaskocher, der wiederum den Tomaten - Ravioli - Topf appetitlich vor sich hingurgeln läßt, sonst ist nichts weiter zu hören.

Es ist 9 Uhr morgens, ich breche im Nebel auf. Somit kann ich bei der Wiederfindung des Seensattels auch meinen Orientierungssinn überprüfen. Es klappt einwandfrei, von nun an folge ich dem Kamm stetig gen Süden. Nach kurzer Zeit lichtet sich der Nebel und läßt die Sonne über die umliegenden Hänge strömen, auf welchen Pferdeherden grasen. Ich passiere eine Stina, der Schäfer befindet aber mit seinen Tieren am gegenüberliegenden Hang, eine weitere Schafherde grast im großen Abstand unter mir, so daß ich auch hier nicht in die Bannmeile der Hunde gerate. Auch ein Salvamont - Hüttchen befindet sich am Weg, ich befinde es, trotz teilweise eingeschlagener Scheiben, in einem brauchbaren Zustand. Wenn die Leute vom Salvamont nicht anwesend sind, ist es durchaus möglich und üblich, daß sich Wanderer in diesen Hütten einquartieren. Selbst wenn die Bergwacht anwesend ist, kann man immer noch fragen, ob vielleicht ein Plätzchen für die Nacht frei ist. Die Mitglieder des Salvamont sind schließlich selbst alle Bergenthusiasten, die wohl in den meisten Fällen über Kontakt mit anderen Wanderern erfreut sind.

Nach den recht frischen Tagen im Hochgebirge genieße ich nun den Abstieg im T-Shirt. Die Route hinunter in die Ortschaft Rodna ist zwischenzeitlich bestens markiert, was vor wenigen Jahren scheinbar noch nicht der Fall war. Wer allerdings den Aussichtshügel Capul Benesului (1587 m) mitnehmen will, muß den Steig kurz verlassen. Ich verpasse den Abstecher, und als ich es merke, befinde ich mich bereits unterhalb des Hügels. Ich habe aber auch keine Lust mehr, jetzt extra noch einmal umzukehren und verfolge weiterhin den Weg abwärts, wo sich schon bald das Somesu - Mare Tal und die beiden Ortschaften Sant und Rodna zu meinen Füßen ausbreiten. Rodna ist ein sehr schöner und angenehmer Ort, trotzdem begebe ich mich gleich weiter zum am Ortsrand gelegenen Bahnhof. Hätte ich gewußt, daß ich dort zu zweieinhalb Stunden Wartezeit verdammt sein werde, dann hätte ich es mir sicher noch in einem Restaurant oder auf einem schönen Platz im Ortskern gemütlich gemacht. Dort habe ich durchgehend schöne, ordentliche Häuslein im überwiegend traditionellen Stil bewundern können. In der Umgebung des Bahnhofes hingegen stehen einige Betonsilos der häßlichen Art, ein alter Mann führt seine wohl einzige, ziemlich abgemagerte Kuh an einer Kette den Bahndamm entlang. So sehr ich mich darüber freuen kann, daß sich mein früheres Vorurteil vom total verarmten und heruntergekommenen Rumänien immer mehr relativiert, so sehr sind auch ständig solche Bilder präsent, die einem gemahnen, daß in diesem Land in wirtschaftlicher Hinsicht doch noch so Vieles im Argen liegt.

Ich halte eine kleine Siesta auf der Wiese neben dem Bahnhofsgebäude, bis endlich mein Zug eintrifft. Ilva Mica heißt das Zwischenziel, wo ich umsteigen muß, um nach Vatra Dornei zu gelangen. Die Zugfahrt führt durch das Tal des Somesul Mare, an dessen Ufern sich wunderschöne Dörfer und Landschaften aneinanderreihen, ein alter Schäfer im Sonntagsanzug sitzt mit mir im Abteil und wir unterhalten uns zwar schleppend, aber durchaus ergiebig. So erfahre ich auch von ihm, daß sieben Mineralquellen hier in der Gegend sprudeln sollen. An Sonn- und Feiertagen man sieht man viele junge Mädchen mit züchtigen Häubchen (insbesondere beim Kirchgang) oder Kopftüchern, die Blusen und Röcke sind oft pikfein, häufig sogar mit einem sexy Zuschnitt. Die Hälse der Knaben und der jungen Männer stecken meist in Kragen und Krawatte. Der schöne Frühsommertag hat sich zwischenzeitlich in einen Regentag verwandelt, aber ich bin ja glücklicherweise bereits im Trockenen.

Nachdem ich in Ilva Mica den Zug gewechselt habe, geht die Fahrt, stetig schön bleibend, das Tal der Bistrita aufwärts. Später weichen die zwischen Hügel gebetteten Dörfer dichtem Tannenwald. Jetzt passiert der Zug auch viele Tunnels und kleine Viadukte. Die Haltepunkte sind nun nur noch einzelstehende Stationsgebäude. Fast schon komme ich mir wieder vor wie im Wassertal. Schließlich öffnet sich wiederum ein mit schmucken Dörfern übersätes Talbecken, bis wir dann endgültig in den Bahnhof von Vatra Dornei einrollen. Es ist zwischenzeitlich fast dunkel geworden. Satte dreieinhalb Stunden hat die Fahrt bis hierher gedauert, ich hatte mit viel weniger gerechnet. Mit einem resignierten Lachen begegnet mir ein Mann, den ich auf der Straße nach einer billigen Unterkunft frage. Hier gäbe es nichts Billiges, am besten sei es, ich würde mich wieder zurück zum Bahnhof begeben und im gegenüberliegenden Hotel "Silva" ein Zimmer erfragen. 600.000 Lei entsprechen etwa 15 Euro, für einen westlichen Touristen durchaus bezahlbar, für die meisten Rumänen jedoch viel zu teuer. Kurios erscheint mir wieder einmal der krasse Unterschied zwischen einer Zeltübernachtung in der freien Wildnis und dem Mittelklassestil, wobei man sich als verdreckter Wanderer in einer wachsglänzenden, mit staub- und fleckenfreien Polstergarnituren bestandenen Hotellounge manchmal etwas verloren vorkommt. Das Personal ist aber sehr freundlich, und auch im dazugehörigen Restaurant werde ich, trotz meines unpassenden Aufzuges, anständig und gut bedient.

Direkt vor dem Hotel steht ein Schilderwald, der zahlreiche Wandermöglichkeiten direkt von Vatra Dornei aus aufzeigt. Ursprünglich wollte ich zunächst dem Calimani - Gebirge den Vorzug geben, doch der Bus zum Ausgangspunkt Gura Haitii wäre bereits um 6 Uhr morgens gefahren, und die nächste Möglichkeit bietet sich erst wieder um ein Uhr nachmittags. Meine noch verbleibende Zeit in Rumänien ist nun aber im Verhältnis zu meinen noch ausstehenden Vorhaben eng kalkuliert, weshalb ich die Entscheidung treffe, von Vatra Dornei aus zuerst in´s Doppelmassiv Ciumalau/Rarau zu marschieren. Um 11.30 Uhr begebe ich mich schließlich auf den Weg, wobei ich bereits kurz hinter den letzten Häusern von Vatra Dornei die Markierung verliere und auf einem Fahrweg lande.

Ich habe mir heute morgen einen kleinen Touristenführer der Umgebung gekauft, der auch eine grobe Karte enthält. Aus dieser entnehme ich nun, daß ich auch über den Fahrweg zur Obcina Mica, einem Zwischenziel auf dem Weg zum Ciumalau, gelangen kann, wo ich auch wieder auf die Markierung treffen würde. Der Weg ist zunächst nicht unschön, mal links, mal rechts der Piste begleitet mich ein Bach, die Luft ist erfüllt vom Duft des Tannenwaldes und vom Odeur frischgeschlagenen Holzes. Unterhalb eines schönen Gehöftes komme ich mit zwei jungen Burschen, die dort oben wohnen, ins Gespräch, die mir auch gleich die Richtigkeit meiner Vermutung bestätigen, daß ich auch über das Forststräßlein die Obcina Mica erreichen werde. Der Fahrweg zieht jetzt in nicht enden wollenden Serpentinen immer höher, unterwegs treffe ich ab und an auf gesprächswillige Waldarbeiter. Ich höre eine Peitsche schnalzen, ein alter Schäfer treibt seine Herde zusammen. Genau an dieser Stelle treffe ich wieder auf den mit rotem Kreuz markierten Wanderweg, der mich, enttäuschenderweise weiterhin auf Fahrweg, zur Obcina Mica bringt.

Die Obcina Mica ist ein idyllischer Ort, auch wenn man zunächst von zwei grimmigen Hofhunden empfangen wird, die zur dort stehenden Cabana Gigi Ursu gehören. Diese rustikale, fast ausschließlich aus Holz gebaute Wanderhütte steht auf einer Lichtung, auf der etwas weiter unterhalb ein schmuckes Holzkirchlein steht, im Hintergrund erheben sich die waldigen Kämme des Bistrita - Gebirges. Der Weg führt weiter durch den Wald, immer noch in Forstwegbreite, und zieht schließlich steil an. Nach mühevollem Anstieg stehe ich endlich auf einer Wiese, und vor mir erhebt sich die grasige Kuppe des Ciumalau - Gipfels (1857 m). Den ganzen Tag über war es mäßig bis stark bewölkt und erst jetzt, quasi als Belohnung für den langen, wenig schönen Waldanmarsch, noch dazu ausschließlich auf Forstwegen- und sträßchen, durchflutet die Sonne aussichtsreiche Wiesenhänge. Stangenmarkierungen führen mich jetzt zunächst über eine ausgedehnte Weide, wo Pferde grasen, um bald darauf anzusteilen. Herrlich, nun aussichtsreich über steile Grasflanken dem riesigen Gipfelkreuz zuzustreben. Mich bedrückt aber dennoch die Tatsache, daß meine Wasservorräte zur Neige gehen, und es mir bislang noch nicht gelungen ist, welches ausfindig zu machen. In halber Hanghöhe sehe ich endlich unter mir das Wasser eines winzigen Baches glitzern. Ich lege den Rucksack ins Gras und steige mit meinen beiden Flaschen hinunter. Somit sind alle Vorraussetzungen für eine tolle Biwaknacht auf dem Gipfel des Ciumalau erfüllt.

Um 19.15 Uhr erreiche ich den Gipfel. Die statische Stabilität des gut 10 Meter hohen Steinkreuzes läßt zweifeln. Der Zahn der Zeit und die Unbilden strenger Wetter haben ganz schön am Schaft genagt, so daß ich zu dem Schluß komme, daß es wohl früher oder später einstürzen wird. Ich muß aber mein Zelt nicht direkt unterm Gipfelkreuz aufschlagen, sondern stelle es in eine der vielen Kulen, mit Blickrichtung direkt nach Osten. Man findet hier oben auch einige aus aufgestapelten Steinen gemauerte Windfänge, offenbar bin ich nicht der Erste, der auf dem Gipfel biwakiert. Hier oben muß vor langer Zeit auch Militär anwesend gewesen sein, denn die vorhin erwähnten Kulen sind nichts anderes als alte Schützenstellungen, die aber bereits völlig von wildem Gras überwuchert sind. Ich finde sogar noch einige total verrostete Patronenhülsen. Ich habe solche Gräben bereits auf den Maramuresch - Gipfeln vorgefunden, auf dem Giumalau aber sind sie besonders zahlreich. Die Sicht von meinem Zeltplatz aus ist prächtig. Genau gegenüber türmt sich das Kleinmassiv Rarau (1650 m) auf, ein Berg mit vielen kleinen Nebengipfeln und interessanten Kalkfelsgebilden, von denen vor allem die Pietrele Doamnei hervorstechen. Doch auch Werke der technischen Art ragen dort drüben in den Himmel, ein riesiger Übertragungsturm und die Antennen der meteorologischen Station. Unten fließt die Bistritz als Silberband durch ihr Tal, rechts von mir, also im Süden, erhebt sich das Bistritzer - Gebirge, an den Rücken eines Urzeitreptils erinnernd, wobei die obersten Bergspitzen der drei Gipfel Pogolinu (1748 m), Pietrosu (1791 m) und Sandru (1537 m) als Felsen wie Panzerschuppen aus den bis obenhin bewaldeten Bergkuppen herausragen. Sowohl Rarau als auch Giumalau unterscheiden sich von den umgebenden Massiven vor allem dadurch, daß ihre Gipfel baumlos sind und sie sich besonders auffällig aus ihrer Umgebung hervorheben.

Ich gehe hinüber zur anderen Seite, wo wellige Kuppen hinter Vatra Dornei im Gegenlicht der Abendsonne zu verschwimmen scheinen. In dieser Richtung befinden sich die Massive Suhard und Calimani. Nordwestlich, in weite Ferne gerückt, kann ich die schneebefleckten Kämme der Muntii Rodnei ausmachen. Am Südhang des Giumalau steht übrigens die Wanderhütte Cabana Giumalau auf 1600 Metern. Diese ist zwar im Aufstieg, aber nicht vom Gipfel aus zu sehen. Dafür blicke ich hinab auf eine Stina, wo alle Schafe für die kommende Nacht bereits im Gatter zusammengetrieben sind. Lange verweile ich noch vor dem Zelt, die Ruhe und die herrliche Aussicht buchstäblich in mich aufsaugend. War ich aufgrund des unendlich langen und meist wenig interessanten Waldanmarsches zeitweise leicht frustriert, so hat der Enttäuschung längst ein Gefühl tiefer Zufriedenheit Platz gemacht, die Strapazen haben sich wieder einmal gelohnt! In der Nacht beginnt es zu regnen, und als ich mal hinaus muß, stehe ich in Nebel mit Sichtweite unter einem Meter.

Bis zum nächsten Morgen soll sich das Szenenbild jedoch wieder ändern. Ich erwache in einem sonnigen, angenehm milden Tagesanbruch, jediglich das Tal der Bistritz ist noch von einer Frühnebeldecke überzogen, ein bezaubernder Anblick! Ein schmaler Bergpfad führt steil hinab durch alpine Matten und teilweise unangenehm zugewachsene Latschenhänge, bis hinunter in einen märchenhaften Wald. Hier befinde ich mich im Verbindungssattel zwischen Giumalau und Rarau. Um zum Rarau - Gipfel zu gelangen, muß zumindest teilweise wieder ein breiter Fahrweg begangen werden. Der Weg besticht aber durch eine gute Aussicht, vor allem zurück zum Giumalau. Die Berge hier sind übrigens alle schon schneefrei, trotzdem erkenne ich jetzt von hier aus drei winzige Schneefleckchen am Osthang des Giumalau. An den weidigen Hängen des Rarau grasen Pferde und Schafe, und bald schon erreiche ich die ersten Felsformationen. Die Annäherung an die Pietrele Doamnei ist großartig, diese Felstürme vermitteln dem Betachter eine besondere Eleganz. Der Rarau ist aber noch von vielen weiteren Kalkformationen übersät und genießt auch den Ruf als ausgezeichnetes Klettergebiet. Im Gegensatz zu einsamen Giumalau ist der Rarau ziemlich erschlossen.

In der Nähe der Pietrele Doamnei befindet sich ein Berghotel, direkt am Fahrweg steht ein Gehöft, und kurz vor dem Gipfel komme ich an einer Stina vorbei. Die dortigen Hunde begegnen mir äußerst schlecht gelaunt und sind wirklich mit Vorsicht zu genießen. Ich bin froh, daß sofort der Schäfer zur Stelle ist, um Schlimmeres zu verhindern. Zuvor war ich noch weiter unten mitten in eine Schafherde geraten, für die ein vielleicht 14-jähriger Hirtenjunge zuständig war. Dessen Hunde waren zwar auch laut, aber die an der Stina signalisierten echten Angriffswillen! Im Aufstieg nehme ich das Heranziehen eines kleinen Gewitters zur Kenntnis, was mich jedoch nicht allzu sehr besorgt. Auf dem Hauptgipfel steht eine riesige Radiostation, doch ich finde etwas abseits ein schönes Plätzchen zum Ausruhen und genieße die herrliche Sicht. Der gesamte Gipfelbereich ist von skulpturähnlichen Felsgebilden übersät und bietet jede Menge Möglichkeiten zum Klettern und Bouldern. Ich habe gerade zu vespern begonnen, als der Regen einsetzt. Das Gewitter wird allerdings, wie erwartet, harmlos, zumal ich hier oben von genügend Blitzableitern umgeben bin. Es beginnt nun ein rasch wechselnder Regen - Sonne - Mix, während ich über die grünen Hänge schwelge, vorbei an prächtigen Felsen, neugierig aufblickenden Pferden und putzigen Schäferhütten. Unterwegs treffe ich eine Hirtenfamilie mit einem Karren, worauf sich Milchkannen, Sennerkessel und weitere Utensilien stapeln. Ein Mann ist mit seinem Pferd ebenfalls in Richtung Gipfel unterwegs, dann wird es wieder ruhig. Ich ziehe den Abstieg durch den Slatioara - Urwald dem durch die Klamm Moara Dracului vor. Ich bin zwar ein Enthusiast, was Schluchten und Klamme anbelangt, aber einen echten Urwald bekommt man heutzutage leider nur noch sehr selten zu bewundern.

Der Slatioara - Urwald befindet sich bereits in der Mischwaldzone. Auch ohne Botanikkenntnisse lohnt sich dessen Begehung. Zig Meter hohe Bäume, zum Teil ineindander verwachsen, beeindrucken mich, und der Regen entlockt dem Wald ein köstliches Aroma. Sämtliche umgestürzten Bäume bleiben als Totholz im Wald liegen, und offensichtlich wurde nur dort von Menschen Hand angeleget, wo umgefallene Bäume den Pfad zu versperren drohten. Soweit ich mich überzeugen kann, sind alle anderen Bäume auf natürliche Weise umgestürzt. Plötzlich regt sich was vor mir, ich erschrecke. Es sind aber keine Bärenjungen, wie es mir im ersten Augenblick erscheint, sondern Wildschwein - Frischlinge, und die Bache ist auch anwesend. Ich zücke das Pfefferspray - Döschen, denn mit einer wildgewordenen Wildsau - Mutter ist nicht zu spaßen. Ich bleibe stehen und beginne mit Pfeifen und lautem Sprechen auf mich aufmerksam zu machen, so daß den Tieren genügend Zeit bleibt, die Flucht zu ergreifen. Nach diesem kleinen Intermezzo setze ich meinen Weg ohne weitere Zwischenfälle fort, bis hinab zu den ersten Häusern der Landgemeinde Slatioara.

Besonders der obere Teil dieser Ortschaft erscheint mir wie ein Bilderbuchdorf. Märchenhaft schöne Bauernhäuser mit tiefgezogenen Dächern, Schnitzereien, lieblichen Bemalungen und traditionellen Holztoren davor entzücken mich, und von allen Seiten ertönen die typischen Laute diverser ländlicher Viechereien. Die Leute grüßen freundlich, ein alter Mann zieht sogar den Hut, bei einem weiteren Anwesen komme ich mit einem zahnlosen Greis ins Gespräch, wobei die kleinen Enkel im Hintergrund sich dabei prächtig amüsieren. Ziemlich frustriert muß ich allerdings auch erfahren, daß von hier aus kein Bus nach Vatra Dornei oder Campulung Moldovenesc fährt. Slatioara liegt ziemlich abgelegen zwischen den Orten Stulpicani (8 km) und Campulung Moldovenesc (9 km). Nur von dort aus könne ich einen Busanschluß bekommen. Da ich beabsichtige, nach Vatra Dornei zurückzukehren, solle ich mich aber am Besten nach Campulung begeben. Es nutzt nichts, statt mich nach einem harten Wandertag ins abgewetzte Leder eines knatternden Busse fallen zu lassen, stehen mir nochmals neun satte Marschkilometer bevor.

Das Forststräßchen verläuft durch anmutigen Wald, aber wird so gut wie nicht befahren. Ganze drei Fahrzeuge begegnen mir, alle in Gegenrichtung verkehrend. Nachdem ich mich zunächst noch etwas bergauf mühen muß, fällt die Straße schon bald ins Tal herab. Alles hat einmal ein Ende, und schließlich und endlich erreiche ich den äußersten Ortsrand von Moldovenesc. Die Bushaltestelle befindet sich an einer Tankstelle direkt an der vielbefahrenen Durchgangsstraße. Ähnlich wie Borsa ist auch Campulung Moldovenesc eine ewig lange Straßenortschaft von gut 12 Kilometern Ausdehnung. Die Stadt wirkt etwas ärmlicher als Borsa und es befinden sich hier auch viele unschöne Betonbauten, trotzdem macht sie auf mich einen sympatischen Gesamteindruck. Die orthodoxe Kirche und ein schönes Kloster sind Beispiele für Sehenswürdigkeiten, die diese Bergstadt durchaus zu bieten hat. Leider ist heute keine Verbindung mehr nach Vatra Dornei möglich, das bedeutet, daß ich morgen abermals nicht den 6 - Uhr - Bus nach Gura Haitii nehmen kann. In der Pension "Incom" zahle ich 100.000 Lei (2.50 Euro) für die Übernachtung in einem Einfachstzimmer mit warmer Gemeinschaftsdusche.

Ich diniere in einem gut besetzten Restaurant in Campulung und meine Gedanken kreisen. In diesem Land koexistieren zwei völlig verschiedene Welten. Ich denke zurück an die Leute, die mir in Slatioara begegnet sind, an die Hirten oben in den Bergen, oder die Waldarbeiter und beobachte die Leute hier. Junge Frauen, modisch in Miniröcken, die Männer meist in Trainingsanzügen und Turnschuhen bekannter Marken, man hört die Musik der Top 50 aus England und Amerika, oder ähnlich Aufgemachtes mit rumänischen Texten, und fast jeder hat ein Handy am Ohr oder am Gürtel.

Die Busfahrt nach Vatra Dornei geizt nicht an landschaftlichen Schönheiten und führt mich durch weitere schmucke Dörfer der Bukowina. Südlich der Talstraße erheben sich Rarau und Giumalau, während das Tal im Norden durch die Mittelgebirgskämme der Obcina Feredului und der Obcina Mestecanisului begrenzt wird. Abgelegene Gehöfte stehen inmitten steiler Weidegründe, dahinter breitet sich tannenbestandener Bergwald aus. In weiten Schlaufen windet sich schließlich der Bus hinauf zum Mestecanis - Paß (1096 m). Die erste Ortschaft direkt hinter der Paßhöhe heißt dann auch Mestecanis. Unterm Paß führt eine Straße nach rechts, wo nach 7 Kilometern die Ortschaft Ciocanesti am Fuße der Suhard - Berge erreicht würde, welche für ihre prachtvolle Volkskunst bekannt ist. Der Bus fährt aber über Jacobeni weiter nach Vatra Dornei. Bis zu meiner Verbindung nach Gura Haitii um 13 Uhr treibe ich mich in der angenehmen Kur - und Bäderstadt Vatra Dornei herum. Der Bus hinaus nach Gura Haitii ist hoffnungslos überfüllt, und um Platz für die Mitreisenden zu machen, stelle ich meinen schweren Rucksack auf den Schoß. Ein alter Mann ist ganz begeistert davon, daß ein deutscher Tourist allein zu einer Wanderung ins Calimani - Gebirge aufbricht, und bald schon scheint der ganze Bus über meine Herkunft und meine Absichten informiert zu sein.

Das Calimani - Gebirge ist eines der höchsten und ausgedehntesten Massive in den Ostkarpaten. Es erreicht eine Länge von 150 km, sowie eine Breite von 50 km und weist mehrere Erhebungen über 2000 Meter auf. Wer nicht die gesamte Hauptkammwanderung durchziehen will, sollte sich am Besten die sogenannte Kraterumrundung vornehmen, womit schon das Wesentliche über den Ursprung dieses Massivs gesagt ist. Die Ortschaften Neagra Sarului und Gura Haitii liegen bereits im Inneren eines riesigen ehemaligen Vulkankraters, der mit einem Durchmesser von 10 Kilometern der größte in den gesamten Karpaten ist. Sein vulkanischer Ursprung brachte dem Gebirge eine auffällige, durch Menschenhand zugefügte Kuriosität, oder besser gesagt, Verschandelung ein: der Übertageabbau von Schwefelsulfat am Negoiul Romanesc führte zur Abtragung des halben Berges.

Auch ich beabsichtige, die Kraterrunde im Calimani zu drehen, wobei ich mir als Ausgangspunkt den Ort Neagra Sarului, welcher sich nahe der Krateröffnung, noch einige Kilometer vor Gura Haitii, der Endstation des Busses, befindet. Bereits von hier unten kann man den fast geschlossenen Kraterkreis betrachten, der sich jediglich nach Nordost hin öffnet, nämlich zu der Richtung, aus der die Straße hineinführt. Die Wasser des Neagra Sarului haben hier einen Durchbruch geschaffen. Die höchsten Gipfel sind von Südwest über Süd bis Südost auszumachen, wo besonders der Pietrosu mit seinem langgestreckten, graufelsigen Kamm auffällt. In diesen Bereichen befinden sich noch etliche ausgedehnte Schneeflecken.

Als ich die letzten Häuser des Ortes hinter mir gelassen habe, beginnt für mich zunächst ein Hürdenlauf. Ständig versperren verschlossene Holzgatter den Weg, die ich mitsamt Expeditionsrucksack zu übersteigen habe. Gleich wie beim Zustieg zum Ciumalau führt ein breiter Forstweg durch wenig attraktiven Wald mit reichlich Holzeinschlag. Allerdings dauert es diesmal "nur" 3 Stunden, bis man endlich aus dem Wald heraustritt und oberhalb einer Quelle die erste aussichtsreiche Bergwiese betritt. Hier trifft auch die Markierung roter Punkt, die am anderen Ortsende von Neagra Sarului beginnt, mit meinem blauen Dreieck zusammen. Rotpunkt führt laut Karte zumindest teilweise entlang des Bergbaches Apa Rece, vielleicht wäre diese Aufstiegsmöglichkeit interessanter gewesen.

Ich strebe nun dem ersten Gipfel entgegen. Mit 1770 Metern Höhe zählt der Lucaciu nicht gerade zu den Höchsten im Kraterrund, aber er bietet dafür eine attraktive Aussicht weit über umliegende Täler und Bergzüge, man kann den nahezu geschlossenen Kreis des Kraters bereits komplett überschauen, und in Blickrichtung Süden türmen sich eine der Hauptattraktionen im Calimani auf: die wilden Felsgebilde der 12 Apostoli. Ich schaue zurück Richtung Norden und erkenne die Gemäuer des orthodoxen Klosters Buza Serbii (1530 m). Passenderweise war mir vorhin ein Waldarbeiter mit einer Tschetnik - Mütze begegnet, eine derartige Kopfbedeckung habe ich bislang noch nie in Rumänien gesehen. Sollte etwa eine serbische Volksgruppe in dieser Gegend siedeln? Es ist mir bislang nicht gelungen, Näheres über meine Vermutung zu erfahren.

Nun geht es schnurstracks auf die 12 Apostel zu, wobei man zuvor noch der Erhebung Pietrele Rosii (1619 m), aus der ebenfalls einige Felsgebilde aufragen, über die Schulter steigt. Leider bleibt mir für eine nähere Inspektion der 12 Apostoli keine Zeit, doch ich bin beeindruckt von diesem, in der abendlichen Einsamkeit wie eine Gruppe erstarrter Gestalten wirkenden, Sammelsurium von Felsskulpturen. Die Zeit ist schon fortgeschritten, und ich muß mir Gedanken über einen geeigneten Lagerplatz machen. Dieser bietet sich mir als wildromantisches Plätzchen im Gipfelbereich des folgenden Berges Tamau (1862 m). Kleine Feuerstellen zeigen mir an, daß hier schon mehr als einmal campiert wurde. In der Abenddämmerung genieße ich noch immer eine traumhafte Aussicht. Der mit 2100 Metern höchste Berg des Calimani - Massivs, Pietrosu, ist im Gipfelbereich gänzlich von einem düster - grauen Wolkenband verschlungen. Dieses kriecht langsam immer tiefer bis ins Kratertal hinab und schickt hin und wieder ein paar Nebelschwaden zu mir hinüber, welche in der Dämmerung durch die Tannenwipfel des knapp unter mir endenden Bergwaldes wie fliehende Gespenster zu mir hinüberschweben und sich dann mit ihren kalten, viskosen Körpern des wenige zig Meter von mir entfernten Gipfelfelsens ermächtigen, ein schaurig - schöner Anblick! Damit ich mich hier oben nicht zu einsam fühle, höre ich blökende Schafe, bellende Hunde und gellende Pfiffe. Die Stina muß sich direkt unter mir befinden, doch auch sie bleibt vom Nebel verschluckt. Aufgrund der reichen Bewaldung scheint es im Calimani - Gebirge allgemein nicht gar so viele Schäfereien zu geben. Auf alle Fälle ist es wiederum ein sehr einsames Gebirge, auf dessen Kämmen man oft tagelang keinem Menschen begegnet.

Um 9 Uhr mache ich mich wieder auf die Socken. Im Südwesten stechen zwei markante Bergspitzen ins Auge, die mir bereits gestern schon aufgefallen waren. Als der Weg durch einen Wiesenhang führt, weiche ich auf die Kammhöhe aus, denn die Hunde der weiter unten grasenden Schafherde haben mich entdeckt. Mir war aufgefallen, daß das Bellen der Hunde als Echo aus dem Bergwald zurückhallte. Vermutlich versteckt sich dort eine Höhle. Tropfsteinhöhlen soll es im Calimani viele geben, am berühmtesten ist der Palatul de Ciocolata (Schokoladenpalast), die sich am Negoiul Romanesc befinden soll. Nach Überschreitung des Maierisel (1871 m) geht es zunächst hinunter in eine Einsattelung, wo auch der Hauptkammweg von Westen her eintrifft. Hier hat man die Wahl zwischen der Umgehung des Pietrosu und dessen Besteigung. Die Wegzeichen gehen mir bald schon verloren und ich steige landschaftlich schön, aber mühsam zunächst entlang eines steilen Bachbettes und schließlich noch steiler querfeldein über Latschen - Block - und Schneefelder aufwärts, bis endlich die Kammhöhe erreicht ist, die nun langgezogen zum Gipfel hinüberführt. Noch vor Erreichen des Gipfelkreuzes werde ich richtiggehend schockiert ob des Jammerbildes des in Richtung Kraterinneres vorgelagerten Negoiul Romanesc.

Von Weitem war er bislang immer wie eine seltsame Pyramide erschienen, die Schäden waren jedoch nicht erkennbar, und erst jetzt, kurz vor Erreichen des Pietrosu - Gipfels, zeigt er sich in seinem bedauernswerten Zustand. Der gesamte Berg wurde im Übertageabbau richtiggehend in serpentinenartigen Bändern abgeschliffen und in seinem Gipfelbereich gut zur Hälfte abgetragen, so, als habe man von einem runden Kuchen die Hälfte entfernt. Man sieht dort drüben auch alte Förderbänder, Gebäude und Maschinen vor sich hin gammeln. Irgendwann im Laufe langer Zeit wird sich die Natur den Berg langsam, aber sicher zurückholen - vorausgesetzt, der Mensch gibt ihr diese Zeit.

Am Gipfelkreuz des Pietrosu gönne ich mir eine längere Verschnaufpause, wo ich auch den umfassenden Ausblick genießen kann. Die Sicht ist klar und ich schaue hinüber zu den Rodnaer Bergen. Der Ineu steht mir direkt gegenüber, weit hinten erspähe ich auch den Pietrosu Rodnei. Unter mir im Tal, nahe dem Negoiul Romanesc, sehe ich einen seltsamen See mit einem schneeweißen Uferbereich heraufschimmern. Ich traue dieser Erscheinung nicht, bestimmt ist es ein künstlicher See, der in Zusammenhang mit dem Schwefelabbau steht. Als Nächstes folgt die Überschreitung des Negoiu Unguresc (2048 m). Der Pietricelu (1993 m) wird für gewöhnlich im Süden umgangen. Dort aber grast eine Schafherde, und wie ein versprengter Kombattant schleiche ich an der Herde vorbei, um die Aufmerksamkeit der Hunde nicht zu erregen. Dabei ist mir die momentane Windrichtung sehr hilfreich. Als die Hunde mich entdecken, bin ich bereits vorbei und mir wird nur noch empört nachgebellt. Dafür bin ich nun auf die Nordseite des Pietricelu geraten, und muß nun ein Stück über die Abbaufläche des Negoiu Romanesc mit Blick auf den zersägten Berg und auf die Industrieruinen queren. Dahinter geht es wiederum aufwärts, wo der Retitis (2021 m) mit seiner meteorologischen Station erreicht wird. In diesem eigentlich recht schönen, mehrstöckigen Holzgebäude besteht eine Nächtigungsmöglichkeit. Dies hat mir schon der "Blonde" auf dem Ineu berichtet, und in der kleinen Karte meines Gebietsführers ist sie auch als "cabana turistica" eingezeichnet. Da ich mit dem Zelt unterwegs bin, und ich eigentlich zwingend noch ein gutes Stück Weges zurücklegen sollte, marschiere ich jedoch weiter.

Ich treffe nun auf einen Fahrweg. Dieser neigt sich dem sanft abfallenden Südabhang des Kraters zu. Eine weite Aussicht auf diese Seite ist hier gewährleistet und im Südosten öffnet sich eine auffallend große, schwach besiedelte Talsenke. Diese ausgedehnten Talsenken sind übrigens typisch in den Ostkarpaten. Sie sind immer wieder zwischen die Massive eingelagert, was den Ostkarpaten oft das Geschlossensein und den Eindruck von einem zusammenhängenden Gefüge raubt. Noch etwas weiter östlich erhebt sich ein auffällig schroffes Massiv, es kann sich nur um das Ceahlau - Gebirge handeln, eines der interessantesten und höchsten, aber auch touristisch erschlossensten Massive der Ostkarpaten. Dieses Gebirge steht schon seit längerer Zeit auf meiner Favoritenliste.

Um den Gipfel Caliman Izvor (2032 m) zu erreichen, muß ich durch weit ausgedehnte, aber relativ gut begehbare Latschenfelder aufwärts steigen, wobei mir die Markierung wiederum verloren geht. Plötzlich sehe ich, wie sich oben zwischen den Latschen etwas Größeres, Hellbraunes bewegt. Ein kolossaler Rehbock schleicht zwischen den Büschen herum. Eigentlich war es meine Absicht, die Kraterrunde bereits am Ende des zweiten Tages, ergo heute, abzuschließen, um einen Tag vor meiner Abreise aus Rumänien wieder in Cluj zu sein. Das kann ich mir abschminken. Schon allein wegen meines verspäteten Aufbruchs am ersten Tag war dies eigentlich nicht mehr zu bewerkstelligen. Doch selbst wenn man zwei volle Tage zur Verfügung hat, sollte man sich darüber im Klaren sein, daß die Kraterrunde in zwei Tagen ein zünftiges Unternehmen ist, das in diesem Zeitrahmen nur von konditionsstarken Wanderern bewältigt werden kann. Es ist spät, ich bin erschöpft und beschließe, langsam, aber sicher nach einem geeigneten Nächtigungsplatz Umschau zu halten. Unterhalb des Caliman - Izvor - Gipfels zu nächtigen, ist eine wundervolle Sache, wenn man genügend Wasser dabei hat, denn dieses findet sich leider weit und breit nirgends. Am Wiesenhang finde ich ein flaches, aussichtsreiches Plätzchen. Auch ein Schneefeld ist in der Nähe. Somit muß ich mir meinen Eintopf für heute Abend aus geschmolzenem Schneewasser zubereiten und habe Glück, nicht etwa im Hoch- oder Spätsommer hier zu sein, wo sich dann die Möglichkeit des Schneeschmelzens nicht mehr bietet.

Von meinem Lager aus blicke ich hinüber zum gegenüberliegenden Kraterrand und mache meinen gestrigen Biwakplatz am Tamau - Gipfel aus. Ich kann von hier aus noch besser in die Geisterstadt am Negoiu Romanesc hinabblicken. Jetzt sehe ich auch mehrstöckige Wohnblocks dort unten. Sollte das alles verlassen sein? Ich habe eine Schwäche für derartige Orte, aber mir reicht natürlich die Zeit nicht, mich dort unten noch umzutun. Schließlich muß ich ja auch auf die Möglichkeit von Höhlenbesichtigungen verzichten, die ganz sicher auch noch interessant gewesen wären. Man sollte übrigens aus der Not eine Tugend machen, und ich erkenne in den verlassenen Industrieruinen am Negoiu Romanesc durchaus Chancen einer touristischen Nutzung. Ich erinnere nur an die Geisterstädte in der chilenischen Atacama - Wüste. Diese verlassenen Salpeterbergbauorte sind bestimmt auch keine besonders schönen, aber sicher spannende und vielleicht auch mystische Orte, die viele abenteuerlustige Touristen anziehen. Nachts sehe ich dort unten übrigens ein einsames Lichtlein leuchten ...

Spätnachts gehen Regen und Böen einher, welche die Zeltwände gehörig zum Flattern bringen, und als ich des Morgens aufwache und auf die Uhr schaue, ist es immer noch ungewöhnlich dunkel im Zelt. Ich öffne den Reißverschluß und blicke in eine Nebelwand. Auch das noch, na das kann ja noch mal lustig werden! Um 8.40 Uhr mache ich mich auf den Weg. Trotz des Nebels beabsichtige ich immer noch die Vollendung der Kraterrunde, wobei mit den beiden Gipfeln Calimanul Izvor und Calimanul Cerbului (2015 m) nochmals zwei der höchsten Gipfel überschritten werden sollen. Die Wegzeichen verliere ich bald schon und anstatt den Kompaß ständig zur Kontrolle in der Hand zu halten, stecke ich ihn nach kurzer Richtungsüberprüfung in die Tasche zurück und verlasse mich auf meinen Instinkt. Über meinen weiteren Weg kann ich nur mutmaßen: ich nehme an, daß ich beide Gipfel westlich, also auf der dem Kraterinneren zugewandten Seite, umgangen habe. Ob ich die beiden Gipfel nur um wenige Meter verfehlt habe, oder ob es vielleicht viel mehr waren, weiß ich nicht. Die Sichweiten gewährten oft nicht viel mehr als vielleicht einen oder zwei Meter.

Bei einer erneuten Richtungsüberprüfung stelle ich zu meinem Entsetzen fest, daß ich, mir völlig unerklärlich, anstatt nach Norden nun plötzlich nach Süden, in die entgegengesetzte Richtung gehe. Ich korrigiere, indem ich Richtung Osten bis zum höchsten Punkt aufsteige und nun, weiterhin weglos, dem Kamm, mit dem Kompaß im Anschlag, strikt nach Norden folge. Zwischendurch treffe ich prompt wieder auf die Wandermarkierung. Doch es dauert nicht allzu lange, da ist sie schon wieder verschwunden. Mir wird es jetzt zu blöd, die ständige Sucherei nach der Markierung nimmt viel zu viel Zeit in Anspruch. Ich beschließe kurzerhand, querfeldein nach Westen abzusteigen, um so ins Kraterinnere und somit zurück in die Zivilisation zu gelangen. Am schlimmsten sind die überaus dicht gewachsenen Latschenfelder, denen ich heute morgen glücklicherweise immer wieder ausweichen konnte, indem ich sie umging. Bald komme ich in steilen Bergwald, wo ich auf ein Bachbett stoße. Endlich finde ich Wasser, so daß wenigstens diese Sorge nun ein Ende hat. Der Abstieg entlang des Bergbaches überrascht durch außerordentliche Attraktivität. Die Freude darüber hält sich allerdings in Grenzen, da ich momentan doch zu sehr um den guten Ausgang meiner Odyssee bekümmert bin.

Die zähe Nebeldecke habe ich bereits über mir zurückgelassen, so daß ich nun über die nassen Tannenwipfel eines düster erscheinenden, verregneten Bergwaldes hinwegblicke. Mitten aus dem grünen Tannenmeer erhebt sich dann plötzlich vor mir eine imposante Felsskulptur mit dem schlanken Schaft einer Nadel, auf deren Spitze man einen Ball aufgespießt zu haben scheint. Das Bachbett wird nun auch von Felsen gesäumt und an einer Stelle ergießt sich das Wasser über eine aalglatte, moos- und grünzeugüberzogene Felsplatte. Zu meinem Bach gesellen sich jetzt weitere Wasserarme, ich wechsle die Bachbetten, denen ich abwärts folge, nach Belieben. Der Weg ist oft sehr mühsam, ich verheddere mich im Dickicht, rutsche auf glatten Steinen aus, klettere über umgestürzte Baumriesen, versinke im Matsch, und meine Bergstiefel füllen sich mit Bachwasser. Irgendwann scheint sich entlang eines der Bachbetten so etwas Ähnliches wie ein Pfad anzubieten. Ob dieser von Tieren oder von Menschen getrampelt wurde, ist mir momentan egal, Hauptsache er erleichtert mir den Abstieg. Schließlich wird der Pfad deutlicher, es erscheinen Waldarbeitermarkierungen an den Bäumen, und bald schon stehe ich auf einem Holzabfuhrplatz, wo ein entsprechend breiter, von schweren Forstmaschinen aufgewühlter Weg mich schließlich und endlich auf ein Forststräßlein hinabführt. Dieses stößt bei einer Brücke auf eine so gut wie nicht befahrene Teerstraße, welche mich zu den ersten Häusern von Gura Haitii hinunterführt. Für eventuelle nachträgliche Nachforschungen über den Verlauf meines Abstieges habe ich mir noch den Namen des Forststräßchens aufnotiert. Ein Schild an der Brücke bezeichnete dort "Drum Forestier Pr. Calului 2 km".

An der obersten Bushaltestelle informiert mich das Schild, daß mir nun erstmal eine über zweistündige Wartezeit beschert ist. Bis ich in Cluj eintreffe, wird es Nacht, Einkaufsbummel und Stadtbesichtigung adios! Ich beginne, Kaffee zu kochen, ein dreizehnjähriger Junge trägt zur Abkürzung der Wartezeit und zu einem kleinen Erfolgsgefühl bezüglich meiner Rumänischkenntnisse bei. Ich stelle fest, wenn genügend Zeit und Ruhe ist, kann bereits ein sehr ergiebiger Informationsaustausch zustande kommen. Ich muß mir zwar meist das Gesagte ein- oder mehrere Male wiederholen lassen, bevor es endlich durch meine Gehirnwindungen gedrungen ist, und mein Zuhörer muß gelegentlich etwas Geduld aufbringen, bis ich wieder mal die richtigen Worte gefunden und in einen halbwegs ordentlichen Satz gepackt habe, aber es scheint immer besser zu klappen.

Diesmal fahre ich die volle Straßenlänge, die in den Krater hinein- bzw. hinausführt. Ich habe irgendwo gelesen, daß Gura Haitii ein altes Bergarbeiternest sein soll und mir bereits entsprechende Vorstellungen vom Erscheinungsbild der Ortschaft gemacht. Diese waren unberechtigt. Es handelt sich um ein sehr idyllisches, kleines Dorf, in dem die ersten zarten Schrittlein in Richtung Wandertourismus bereits getan sind, denn ich habe am einen oder anderen der schönen Bauernhäuser bereits Übernachtungsangebote ("Cazare") in den Fenstern gesehen.

Zurück in Vatra Dornei bleibt genügend Zeit für ein Abendessen in der schönen Fußgängerzone. Erst nach 20 Uhr geht die Fahrt los, und bis der Accelerat endlich in den Hauptbahnhof von Cluj einfährt, ist es schon Mitternacht durch. Was die Langsamkeit der rumänischen Züge anbelangt, so kann ich mich noch gut an diverse Bahnreisen durch Spanien entsinnen, wo die Züge auch nicht schneller sind, dafür um ein Vielfaches teuerer und wenn die deutsche Bahn wieder einmal Verspätung hat, ist man oftmals auch Ewigkeiten lang unterwegs.

Im Hotel Pax, gleich gegenüber vom Bahnhofsgebäude, komme ich mit 700.000 Lei (ca. 17 Euro) davon. Glücklicherweise haben die Lebensmittelläden einschließlich eines Kebab - Imbisses rund um die Uhr geöffnet, weshalb ich mich noch schnell mit Reiseproviant eindecken kann, denn meine Rückfahrt beginnt um 5 Uhr morgens ab Bahnhof. Die Verbindung zwischen Cluj und dem südlichen Siebenbürgen wird übrigens von einer Partnergesellschaft meiner Buslinie bewerkstelligt, wobei hier offenbar ein Fehler in der Koordination unterlaufen ist. Jedenfalls habe ich Glück, überhaupt mitgenommen zu werden. In Zukunft bin ich wohl besser beraten, nur noch mit einer Gesellschaft zu reisen, und bei Bedarf den Weiterweg selbst in die Hand zu nehmen. Zwischenzeitlich bin ich ja, was das Reisen in Rumänien anbelangt, doch schon fast zum Routinier geworden...


zurück / înapoi