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Wintereinbruch im Retezat

Abenteuerliche Bergtour durch Rumäniens ältesten Nationalpark

Ein Reisebericht von: Günter Joos, Singen (Bad. – Württh.)


Nach einem verregneten Sommer auch das noch! Als unser Bus am Morgen des 25. September 2002 durch die Schwarzwaldgemeinden kurvt, um weitere Mitreisende aufzunehmen, tragen die Tannenwipfel bereits eine schleierähnliche Weißfärbung, die Wettermeldung im Radio prognostiziert die Schneefallgrenze bei 700 m im Allgäu und für Rumänien sieht´s nicht viel besser aus, wie ich mich am Vortag noch im Internet überzeugen konnte. Österreich und Ungarn werden im Regen passiert, und in den Pausen schlagen die Fahrgäste die Krägen ihrer Winterjacken hoch, um den beißend kalten Wind erträglich zu machen. Die Fahrt durch´s Banat findet unter einer tristen Wolkendecke statt. In Arad erwartet uns bereits wieder der rumänische Geldspielautomat, die Hütchenspieler. Nach getanem Werk geben sie sich nicht einmal die Mühe, die Tatsache zu verbergen, daß Spieler und „Anheizer“ zusammengehören. Die Kofferraumhaube des neuwertigen BMW geht auf, Hütchen, Kugel und roter Teppich fliegen hinein, und die vier Burschen steigen in den Wagen, ihrer Kundschaft noch freundlich zum Abschied zuwinkend. Ja, sie wissen eben, was sich gehört!

Sieben Kilometer vor Deva gehen dann die Himmelsschleusen erneut auf, gerade rechtzeitig zu meiner Ankunft. Drei junge Roma stürmen im Bahnhofsgebäude hektisch auf mich ein: „English? Deutsch? Gold, billig!“ und man hält mir verschiedene Ringe unter die Nase. Ich winke ab und werde dafür mit rumänischen Beschimpfungen eingedeckt. Ich ignoriere die edlen Herren weiterhin, indem ich einfach in eine andere Richtung davonschlendere. Der überfüllte Personenzug macht dem schlechten Ruf der rumänischen Eisenbahn alle Ehre, ich bleibe mit meinem sperrigen Rucksack in einer defekten Tür hängen, viele junge Reisende veranstalten eine Hektik und ein Geschrei, an ruhiges Reisen ist da nicht zu denken. Etwas unsorgfältig war ich beim Lösen des Tickets. Subcetate hatte ich gesagt, und als ich jetzt noch mal genauer im Buch nachschaue, stelle ich fest, daß ich eigentlich nach Ohaba de sub Piatra müßte, denn in Subcetate müßte ich mit dem Bus erst nach Hateg weiterreisen, und von dort aus dann schauen, wie ich nach Ohaba de sub Piatra gelange. Leider finde ich die Ortschaft Subcetate in der Skizze meines Buches nicht, meine Mitreisenden im Abteil können mir auch nicht weiterhelfen.

Als besagter Bahnhof erreicht ist, steige ich aus, stürme abermals zum Fahrkartenschalter, wo ich schließlich erfahre, daß der Zug, dem ich soeben entsprungen bin, eben genau nach Ohaba weiterfährt. Die Zeit reicht gerade noch, um abermals aufzuspringen, diesmal bleibe ich mit meinem Gepäck im Gang vor der Waggontür stehen, darauf bedacht, mit dem Fuß nicht in die offene Kluft beidseitig der Plattform, wo die beiden Waggons miteinander verkuppelt sind, zu geraten, vielleicht dauert die Fahrt ja nicht mehr so lange. Zwei angetrunkene junge Herren leisten mir Gesellschaft, der mit den fehlenden Schneidezähnen spricht Englisch, der andere hält sich zurück. Wenigstens wissen sie, wo ich auszusteigen habe und als unser Zug eine Ortschaft passiert, die unmittelbar vor meinem Ziel liegt, wird die Tür des fahrenden Zuges aufgestoßen, und es gehen wüsteste Beschimpfungen einher. Ein Zigeunerdorf sei das, und ich solle mich vor denen vorsehen, das seien alles dreckige Diebe und Verbrecher. Bevor der Zug in Ohaba de sub Piatra hält, werde ich an einen weiteren Mann vermittelt, der angeblich weiß, wo die Sammeltaxis abfahren in Richtung Nucsoara, dem letzten Dorf vor dem eigentlichen Aufstieg in den Retezat, bzw. bis hinauf zur Cirnic – Baude auf 1005 m, wo die Befahrbarkeit des Weges für herkömmliche PKW endgültig zuende ist.

Es regnet immer noch tüchtig, und ich zwänge mich schließlich zusammen mit meinem neuen Bekannten und weiteren fünf Personen, einschließlich Fahrer, in einen Dacia, wo ich leider Gottes auf seinem Schoß Platz nehmen muß, und es geht reichlich inkommod auf rüttliger Piste in den nächst gelegenen Ort, wo vor der Dorfkneipe Halt gemacht wird und alle Mann samt Fahrer hinein stürmen, nur die junge Frau, die mit uns im Auto gesessen hat, bleibt wartend zurück. Bereits auf der Fahrt hat mir mein neuer Freund suggeriert, ich möge doch die Nacht in seinem Haus verbringen, bei dem Regen heute noch bis zur Pietrele – Hütte, das sei nichts. Ich könne bei ihm übernachten, und für Essen und Trinken würde er sorgen. Ich willige schließlich ein, fühle mich ein wenig unbeholfen in der momentanen Situation, mein neuer Gastgeber feiert unsere Übereinkunft mit zwei reichlich vollen Gläsern Wodka, und es ist, wie so oft in Rumänien, nicht einfach, meinen Gegenüber zu überzeugen, daß ich keinen Alkohol trinke. Da muß wieder mal der Doktor herhalten. Den Doktor, erwidert er, frage er erst gar nicht. Um die Gastfreundschaft von Petre, so heißt mein neuer Bekannter, nicht zu verletzen, nehme ich schließich eine Fanta und ein gefülltes Gebäck zum Verzehr an.

Die Atmosphäre einer rumänischen Dorfwirtschaft ist indes für einen Fremden ein echtes Erlebnis. Ein alter Billardtisch in der Mitte, ringsum ein paar abgewetzte Tische und Stühle, und zwischen angetrunkenen, lärmenden Schäfern, Bauern und Minenarbeitern bedient die resolute, junge Wirtin als einziges weibliches Wesen in diesem Raum. Ein betrunkener Schäfer redet auf mich ein, ich lächle mal einfach, will nicht wieder gleich das alberne „nu inteleg“ („ich verstehe nicht“) anbringen. Betrunkene brauchen oft gar keinen Debattierpartner, sie brauchen nur jemanden, dem sie erzählen können und der wenigstens so tut, als höre er ihnen zu. Petre erklärt mir immer wieder auf´s neue, wie er sich den Ablauf der Dinge vorstellt. Bei ihm essen und trinken, dann übernachten und morgen bei vielleicht besserem Wetter weiter zur Pietrele – Baude gelangen.

Der betrunkene Schäfer hat sich indes an den Nachbartisch gesetzt und stimmt nun lautstark ein Liedlein an, während Petre ihm energisch am Ärmel zupft und ihn anbrüllt, er solle gefälligst das Maul halten. Ja, eine klassische Dorfkneipenatmosphäre in Rumänien, so was muß man auch als Milchtrinker mal miterlebt haben. Der Umtrunk artet Gott sei Dank nicht aus, und nach einem halben Stündchen finden wir uns alle wieder im Dacia, wo ich und Petre schließlich vor dessen Haus hinausgelassen werden. Als erstes folgt eine Besichtigung des Anwesens, das aus einem kleinen, für viele Regionen des ländlichen Rumänien so bezeichnenden, rechteckigen Häuslein mit gleichfalls typischem, lang nach hinten gezogenem Obstgarten besteht. Ein Tritt gegen den Birnbaum, und schon regnet es Früchte ins nasse Gras. Wegzehrung für morgen, sagt Petre und pflückt sogleich noch ein paar Äpfel für mich, alles selbstverständlich ungespritzt.

Zwischen Wohnhaus und Obstgarten befindet sich der Stall, wo drei Kühe und eine Sau untergebracht sind, und im Hof gackern zahlreiche Hennen. Für den Toilettengang muß man sich zuerst durch den Stall bemühen, das Häuschen steht im hinteren Teil des Gartens, ein echtes Plumpsklo. Auf dem Holzrahmen liegt ein Strauß mit Gräsern, vermutlich zur Neutralisierung des Geruchs. Schließlich nehmen wir noch das Wohnhaus in Augenschein. Alles wirkt schlicht, die altmodischen Möbel und der knarrende Dielenboden, der beim Betreten die Gläser in den Vitrinen erzittern läßt, alte Familienfotos zwischen Weingläsern und kitschigem Porzellan, Heiligenbilder an den Wänden, das alles weckt in mir Kindheitserinnerungen an das alte Häuslein meiner Großeltern im schwäbischen Allgäu.

Hernach werde ich mit Petre´s Mutter bekannt gemacht, einer alten, untersetzten Bauersfrau mit einer ruhigen, freundlichen Ausstrahlung. Ein Gast wird in Rumänien natürlich niemals weggeschickt, und so komme ich in der rustikalen, alten Küche mit dem Holzherd, wie ihn meine Großmutter gleichfalls einst besaß, in den Genuß einer typisch rumänischen Mahlzeit, wie sie besonders auf dem Land üblich ist. Zuerst wird mir eine Ciorba (Gemüsesuppe) gereicht, der obligatorische Rahm ist selbstverständlich hausgemacht, wie mein Gastgeber betont. Ich bin zunächst etwas unsicher, die alte Frau hat bestimmt nicht mit meinem Kommen gerechnet, und es ist offensichtlich, daß Petre und seine Mutter nicht zur rumänischen Oberschicht gehören. Schließlich vertröste ich mich mit dem Gedanken, morgen früh beim Gehen einfach etwas auf dem Tisch zurückzulassen, auf keinen Fall will ich ihnen Geld in die Hand drücken, das könnte vielleicht beleidigend sein und würde wohl ohnehin nicht angenommen. Frisch gemolkene Milch wird erwärmt und über´s Sieb in die Tasse gefüllt. Wer hier an Krankheitskeime denkt, ist selbst schuld, die Leute trinken das hier so jeden Tag, und ich beneide sie darum. Ein herrlich mundendes Kartoffelgericht folgt der Suppe, dazu frische Brinza (Frischkäse), alles aus eigenem Stall und Garten. Dem nicht genug, folgt als Nachtisch selbstgebackenes Brot mit Butter und zwei verschiedenen selbstgemachten Marmeladesorten, köstlich! Ständig werde ich aufgefordert, zuzugreifen, aber zum Schluß kann ich dann wirklich nicht mehr.

Nach dem Essen verschwindet Petre für eine kurze Zeit, er will für mich eine Mitfahrgelegenheit für morgen früh besorgen. Er selbst wird dann nicht mehr im Hause sein, da er bereits um halb fünf in der Früh aus den Federn muß. Als ich so allein mit Petre´s Mutter in der Küche neben dem knisternden Holzherd sitze, verstärken sich meine Kindheitserinnerungen, die Frau erinnert mich so sehr an meine Oma, die genau so schweigend und geduldig auf ihrem Holzstuhl neben dem Herd zu sitzen pflegte. Leider habe ich erst zehn Wochen vor meiner Abreise damit begonnen, mir ein paar Brocken Rumänisch beizubringen, weshalb jetzt nur eine schleppende Unterhaltung möglich ist. Nächstes Mal passiert mir das nicht mehr, denke ich, dann will ich in der Lage sein, zumindest bescheidene Konversationen zu führen. Als Petre schließlich zurückkehrt, hat er einen weiteren Mann im Schlepptau, den er mir als seinen Nachbarn vorstellt. Der Nachbar ist, wie es sich herausstellt, Ingenieur, und das recht wohlhabende Häuslein nebenan dient ihm jediglich als Wochenend- und Ferienresidenz. Wir verabreden uns für morgen gegen acht, er will mich dann abholen kommen. Nach der Hausbesichtigung beim Nachbarn, wo der soziale Unterschied zwischen den beiden nicht zu übersehen ist, begeben wir uns schließlich in Petre´s Zimmer, wo die beiden Sofas zur Bettruhe bereitgemacht werden. Im Liegen schauen wir noch ein wenig rumänisches Fernsehen, als ich nachts aufwache, läuft die Kiste immer noch, und ein leichtes Schnarchen meines Gastgebers ist zu hören. Ich schalte das Gerät aus, begebe mich durch den verregneten Hof und die Stallung zum unangenehmen nächtlichen Toilettengang, und packe mich anschließend wieder unter die dicke, wärmende Bettdecke, um sogleich wieder einzuschlafen.

Der Blick aus dem Fenster bei Tagesanbruch verheißt keine wesentliche Wetterveränderung, allerdings regnet es momentan nicht mehr gar so stark. Petre hat sich schon längst zur Arbeit davongestohlen, und ich beginne damit, meinen Rucksack in Ordnung zu bringen. Es ist schon fast halb neun, und vom Nachbarn ist noch nichts zu sehen. Schließlich kommt Petre´s Mutter herein, die schon seit geraumer Zeit in Haus und Hof beschäftigt ist, und fordert mich auf, ihr in die Küche zu folgen, wo ein wohlschmeckendes Frühstück auf mich wartet. Die alte Frau packt mir noch ein paar Äpfel für unterwegs ein, als endlich der Nachbar in der Tür erscheint. Er bringt mich schließlich mit seinem Wagen auf holpriger Piste von Paros, so heißt das niedliche Dorf, in dem ich genächtigt habe, nach Salasu de Sus, dem nächst gelegenen größeren Ort, von wo aus Busverbindung bis Nucsoara besteht, bzw. man kann auch mit dem Sammeltaxi eventuell bis zur Cabana Cirnic gelangen.

Ein uralter Geländewagen hält und läßt ein paar Fahrgäste aussteigen, die mir sogleich etwas zurufen, wie „Spre Cabana Cirnic!“. Am Steuer sitzt ein alter Mann, hinten zwei junge Frauen und ein junger Mann. „Teutonische Gesichter!“ schießt es mir durch den Kopf, und sogleich greifen beherzte Frauenhände nach meinem tonnenschweren Expeditionsrucksack, der Mann sitzt zu weit hinten, um helfen zu können. Der dröhnende Motor des Vehikels unterbindet allzu ausführliche Unterhaltungen, und ich beschränke mich auf ein paar Phrasen meines „Notrumänisch“, die ich an den alten Mann richte. Schließlich stellt sich heraus, daß meine drei Mitreisenden tatsächlich Deutsche sind, aus Jena. Eine der beiden Frauen scheint offensichtlich gut Rumänisch zu sprechen. Wir lassen nun das sich unmittelbar vor dem Gebirge ausbreitende flache Weideland, in dem sich ein paar weltabgelegene Dörfer verteilen, deren niedliche Kirchtürme als auffälligste Bauten oft schon von weit her sichtbar sind. Die Landschaft hinter Nucsoara bekommt mehr und mehr gebirgige Konturen. An grünen Wiesenhängen weiden Schafe, dazwischen steht, unbeweglich wie ein Denkmal, der Schäfer, aufgrund der unangenehmen Witterung in sein traditionelles, wärmendes Schafsfell gehüllt.

Der neben uns fließende Nucsoara – Bach verwandelt sich in gischtendes Wildwasser, erste größere Felsbrocken erheben sich in der Trübheit des wolkenverhangenen Regentages aus der Landschaft, Nebelschwaden steigen aus nassem Weidegras auf. Die Kurbelwelle des Scheibenwischers dreht sich wie eine Spieluhr und wir werden in aller Regelmäßigkeit von tiefen Schlaglöchern durchgewalkt. Mit brüllendem Motor keucht unser Vehikel noch an der Cirnic – Hütte vorbei, kurz danach ist Schluß. Ab hier sei die „Straße“ für sein Gefährt nicht mehr weiter befahrbar, teilt uns der alte Mann mit, und wir nehmen somit die fehlenden paar Kilometer hinauf zur Pietrele – Hütte unter die Sohlen unserer schweren Wanderstiefel.

Wir bleiben gleich als Gruppe zusammen, beschnuppern uns zunächst ein wenig, und bis wir die Pietrele erreicht haben, ist bereits eine rege Unterhaltung im Gange. Rasch einigen wir uns, zusammen eine Vier - Bett – Unterkunft zu belegen, in Form einer Casute (kleiner Holzbungalow), von denen gleich mehrere im Umfeld des Haupthauses zur Verfügung stehen. Die von außen sehr schlicht erscheinende Blockhütte ist innen überraschend gemütlich, ja sogar ein Kamin ist vorhanden. Dummerweise läßt es sich jedoch nur vom benachbarten Zimmer aus anfeuern, weshalb wir diesbezüglich auf die Gunst unserer Nachbarn angewiesen sind. Bis wir uns dann schließlich eingerichtet haben, ist es für eine ausgedehntere Wandertour schon zu spät, weshalb ich beschließe, einen kleinen Ausflug zum östlich gelegenen Gales – See zu unternehmen, um auch gleichzeitig die derzeitigen Verhältnisse, was Wegezustand und momentane Schneefallgrenze anbelangt, in Augenschein zu nehmen.

Durch prächtigen Tannenwald, der mit moosbegrünten Felsen durchsetzt ist, führt der gut markierte Pfad, wobei die Wasser des Pietrele- und später die des Gales – Baches auf Brücken gequert werden, die jediglich aus ausgelegten Baumstämmen mit wackligen Holzgeländern bestehen, und bei nasser Witterung gefährlich glitschig sind. Bald tut sich die eine oder andere Lichtung auf, und kurz danach erreiche ich die Latschenfeldzone. Was der Regen noch nicht geschafft hat, vollbringen jetzt die klatschnassen Zweige, zwischen welchen nur ein sehr schmaler Pfad durchführt, weshalb ich ständig mit Jacke und Hose die nassen Äste der Krüppelkiefern streife und meine Kleidung zumindest von außen völlig durchnässt. Zwischendurch durchschreite ich auch regendurchtränkte Wiesen, und ein unheimlicher Nebel zieht über die Landschaft und verhindert einen Weitblick auf die umliegenden Berge. Nach eindreiviertel Stunden gelange ich zum Nordende des auf 1990 m gelegenen Gales – Sees. Von den sich im Retezat befindlichen über achzig Bergseen gehört er flächenmäßig zu den größeren, doch leider sehe ich momentan nur ein spärliches Stück Uferzone und den Ausfluß des Gales – Baches, der Rest der Seefläche, sowie der gesamte über dem See gelegene Talabschnitt verbergen sich unter einer zähen Nebeldecke.

Hier oben hat sich der Regen in Graupelschauer verwandelt, legeres Weiß liegt zum Teil auf den Zweigen und Gräsern der Subalpinzone, aber alles nicht so schlimm, wie ich es eigentlich erwartet hätte. Auf dem Rückweg mache ich noch einen kleinen Abstecher zum Taul dintre Brazi ( „See zwischen Tannen“), einem romantischen, kleinen Weiher mitten im Wald, aus dessen torfgefärbtem Wasser umgestürzte Baumstämme herausragen, und der ringsum von Tannen und Latschenkiefern gesäumt ist. Auf meinem weiteren Rückweg komme ich an einigen gewaltsam umgeknickten Jungbäumen vorbei, die umliegenden Baumstämme weisen Kratzspuren auf. Hier war offensichtlich Gevatter Bär am Werk. Als ich bei unserer Casute ankomme, ist dort abgeschlossen, offenbar haben sich meine drei Mitbewohner, die zuvor noch ein wenig unentschlossen waren, doch noch auf die Socken gemacht. Somit begebe ich mich in den Gastraum des Haupthauses und lasse erst einmal etwas Essbares herantragen. Den Hofhund habe ich mir draußen mit einem energischen Brüller vom Hals gehalten. Er hat bei unserer Ankunft fertiggebracht, was während meiner gesamten Fagarasch – Tour vor zwei Jahren keiner der mir dort in Unzahl begegneten Hirtenhunde geschafft hat: Er hat sich zwar nicht gerade in mein Bein verbissen, das ich geistesgegenwärtig zurückgezogen habe, allerdings hat er noch meinen Regenmantel erwischt. Irgendwo habe ich gelesen, man solle den aggressiven Hunden gut zusprechen, um sie zu beruhigen. Genau das habe ich gemacht. Nun, ich werde in Zukunft doch lieber wieder auf Autorität setzen, das stellt zwar das Gebell nicht ab, hält die Hunde jedoch im allgemeinen auf Abstand.

Das Timing ist perfekt, kurz nach Beendigung der Mahlzeit treffen meine drei Freunde ein. Sie waren im Stanisoara – Tal unterwegs und waren bis kurz vor die Saua Retezatului (Retezat – Sattel) vorgedrungen, wo sie dann wegen der fortgeschrittenen Stunde und des nicht allzu berauschenden Wetters kehrtmachten. Trotzdem hat auch ihnen ihr Ausflug gefallen. Das Unterwegssein bei „schlechter“ Witterung hat oft seine eigenen Reize und Vorzüge, und ich selbst habe an so manchen Schlechtwettertagen traumhafte Naturerlebnisse gehabt. Abends machen wir es uns in unserer Unterkunft gemütlich und während Sabine, Dorle und Stefan noch einen Skat dreschen, haue ich mich schon mal in die Falle. Nachts werde ich durch eine exzellent rezitierte Version in Sophran – Alt - Baß des Gute – Nacht – Liedes „Der Mond ist aufgegangen“ geweckt. Ja manchmal muß man bis nach Rumänien reisen, um altdeutsches Liedgut wiederzuerfahren. Mitten in der Nacht treibt mich der verfluchte Urindrang hinaus in die Kälte. Der Nachthimmel ist nahezu klar, was mir Hoffnung für den folgenden Tag macht.

Leider hält der Tag nicht, was der Nachthimmel versprach. Trotzdem bin ich begierig entschlossen, aufzubrechen. Ich lasse mir dazu allerdings mehr Zeit, als das sonst bei mir üblich ist. Nach dem Frühstück wird erst noch ein kleiner Plausch gehalten, und ich mache mich so gegen halb elf auf den Weg, der mich durch´s gleiche Tal führt, durch das meine Freunde gestern gegangen sind. Wiederum beginnt der Wandertag auf einem wunderschönen Waldpfad, immer entlang am Ufer des Stanisoara – Baches. Bald folgt subalpine Latschenzone und anschließend finde ich mich auf Bergwiesengrund, völlig vom Nebel eingeschlossen und von feinem Nieselregen berieselt. Ich genieße diesen einsamen Marsch durch diese vernebelte Wildnis. Es ist das Gefühl, unterwegs zu sein in einem Gebiet, in dem man niemals zuvor war, einsam, unter wenig günstigen Bedingungen, und dennoch Herr der Lage zu sein, sich anhand von Pfadspuren, gelegentlich sichtbar werdenden Markierungen, Kompaß und Karte zu orientieren und die Lage zu orten. Diese Form der Ausgesetztheit ist meiner Ansicht nach ein großartiger Aspekt des Bergsports. Ich habe bis jetzt, wie es gestern schon der Fall war, keine Menschenseele getroffen, als nun überraschend zwei Gestalten aus dem Trüb des Nebels auftauchen. Die beiden Männer gesetzteren Alters sind unterwegs hinunter zur Pietrele – Baude. Zum Retezat – Gipfel will ich, antworte ich auf ihr Nachfragen. Sie winken ab. Bei dem Wetter...

Die Felsen von La Bordulet entgehen mir glatt im Nebel, und der folgende Bergsee, sowie der Stanisoara – See (1990 m) mitsamt seinem Nachbarn gewähren nur bescheidene Anblicke unter der sich gelegentlich etwas lichtenden weißen Suppe. Schließlich zieht der Weg steil nach Osten hinauf in den Retezat – Sattel. Die angefrorenen Felsen der Blockfelder verlangen Aufmerksamkeit. Als ich den Sattel erreiche, lichtet sich der Nebel und zum ersten Mal entblößt der Retezat mir seine prächtige Hochgebirgsstruktur. Was sich bei den schlechten Sichtverhältnissen und bei vorhergehenden, oft nur wenige Sekunden dauernden Lichtungen des Nebelschleiers bisher nur angedeutet hatte, manifestiert sich jetzt: es sind jene prächtige Herbstfarben, die ich von meinen Reisen in die Hohe Tatra her kenne, und von denen ich bisher geglaubt habe, man könne sie nur dort vorfinden. Ausgedehnte Blockfelder, deren aschgraue Felsbrocken mit grünspanfarbenen Moosflechten überzogen sind, kontrastieren mit dem satten Dunkelgrün des unter mir sich ausbreitenden Bergwaldes, das Gras variiert von Hellgelb bis leuchtend Rot- bzw. mattem Dunkelbraun, darüber ragen düstere Granitfelsen empor. Schneeflecken aus sauberstem Weiß bedecken Felsen und Grasflächen der Paßhöhe, die frei werdenden Gipfel sind von hellweißen Streifen und Flecken durchzogen. Besonders imponiert mir der Blick hinunter ins Stanisoara – Tal, direkt unter mir der mit Geröll und Blockfeldern übersääte Talabschluß mit wunderschönen Bergseen, weiter unten dann Latschen – und schließlich Bergwaldzone, wo geisterhafte Nebelschwaden über die Tannenwipfel ziehen. Die Sonne zeigt sich durch die nunmehr dünn gewordene Wolkenschicht wie durch Milchglas. So hat sie sich vorhin schon ein paar Mal blicken lassen, hat Hoffnung gemacht. Ich muß an „Oh, du schöner Westerwald“ denken, zumindest begreift man unter solchen Umständen den Sinn des Textes, obwohl dieser altgermanische Gassengröler nicht unbedingt zu meinen Favoriten zählt.

Der Gang zum Gipfel ist unschwer, die überforene Nässe auf den Felsblöcken ist aber dennoch mit Vorsicht zu genießen. Die Hoffnung auf eine Nebellichtung bei Ankunft auf dem Vârful Retezat (Vârf = Gipfel), der als einer der herausragenden Aussichtsberge im gleichnamigen Gebirge bekannt ist, bleibt leider unerfüllt. Auch nach Verzehr des Gipfelvespers ändert sich die Lage nicht, und somit steige ich wieder hinunter in den Sattel, wo ich meinen Weg nun gleichbleibend gen Süden fortsetze, dem Kammweg in Richtung Vârful Bucura I (2433 m) folgend. Erneut lichtet sich der Nebel, und ermöglicht den Blick hinab in zauberhafte Hochtäler mit herrlichen Meeraugen (Bergseen). Die zu meiner Rechten sind sozusagen verbotenes Territorium. Es handelt sich um das wissenschaftliche Biosphärenreservat, das nur mit Sondergenehmigung zu besuchen ist. Die vielen Bergseen im Retezat sind allesamt glazialen Ursprungs. Auch die eindrucksvollen Trogtäler sind ein Werk eiszeitlicher Gletscher, die hier eine Traumlandschaft geschliffen haben, ein Meisterwerk der Natur! Erneut lichtet sich der Nebel und gibt den Blick frei auf den mächtigen Bergrücken der Bucura I, welcher von erneutem Schweißvergießen kündet. Nun, bei kühler Witterung ist es mir ganz recht, wenn es mir selbst etwas warm wird und so erreiche ich nach mehreren tausend profunden Atemzügen und ein wenig Abwechlung in Form zweier kleinerer, einfacher Kletterstellen den Gipfel der Bucura I, leider erneut mit White – Out - Aussicht.

Ich folge weiter der roten Markierung, die bald bergab führt, hinunter ins Tal, so denke ich. Daß dann die Wegzeichen ganz verschwinden, erscheint mir nicht weiter tragisch, ich finde auch so ins Tal hinunter, und irgendwann werde ich wohl wieder auf den eigentlichen Wanderpfad stoßen. Als der Nebel sich im oberen Talabschluß lichtet, erkenne ich unter mir einen hübschen, kleinen See, sowie den schlängelnden Arm eines Gebirgsbaches. Schließlich ziehen auch die weiter unten verbliebenen Schwaden von dannen, und jetzt breitet sich zu meinen Füßen der kristallklare Wasserspiegel eines zauberhaften Bergsees aus. Hier kann doch was nicht stimmen! Das Pietrele – Tal, über das ich mich eigentlich bis hinunter zur Gentiana Hütte begeben wollte, besitzt zwar ein paar Bergseen, aber keinen von solcher Dimension! Am Seeufer sehe ich drei Personen vorbeiziehen. Das muß der Gales – See sein, denke ich, das da unten sind sicherlich Sabine, Dorle und Stefan, na die sind aber reichlich spät dran! Die Drei hatten mir am Vorabend angekündet, daß sie heute die große Runde Pietrelehütte – Galessee – Saua Zanoagelor - - Valea Rea – Pietrelehütte gehen wollen. Wenn sie jetzt erst den Gales – See erreicht haben, dann wird sie mit hundertprozentiger Sicherheit lange vor Erreichen der Pietrele - Baude die Dunkelheit ereilen. Da müssen wir uns wohl zu viert für ein Notbiwak in mein Dreimann – Zelt drängen, denke ich noch, als ich plötzlich am gegenüberliegenden Seeufer eine Hütte erkenne. Das darf doch nicht wahr sein!

Jetzt erst bemühe ich den Kompaß, der zu meiner größten Verwunderung meine Abstiegsrichtung mit haargenau Süden anzeigt, also entgegengesetzt zum vorgesehenen Weg. Ich bin jetzt absolut sicher, das da unten ist der Bucura - See mit der kleinen Salvamont – Hütte am südöstlichen Ufer. Ich muß in der Nebelmauer auf der Bucura irgendwie den Drehwurm gekriegt haben, und ärgere mich darüber, daß ich derart meine Orientierung verlieren konnte. So sicher war ich mir meiner Sache, daß ich Kompaß und Karte keines Blickes gewürdigt habe und die Südumgehung der Bucura II, die für kurze Zeit tatsächlich in nördlicher Richtung zieht und hierbei etwas nach unten abfällt, für den Abstieg ins Pietrele - Tal gehalten habe.

Das Retezat – Gebirge wird durch zwei in etwa parallel zueinander von Nordosten nach Südwesten verlaufenden Hauptkämmen dominiert, die wiederum durch den Papusa – Custura – Kamm in einer H - Form verbunden sind. Das Gebiet westlich des Verbindungskammes, das sich zwischen die beiden Hauptkämme zwängt, kann man wohl als das Zentrum des Retezat – Gebirges bezeichnen, wobei der Bucura – See eine Art Kernpunkt darstellt. Auf 2041 m Höhe inmitten grandioser Hochgebirgslandschaft gelegen, handelt es sich um den größten natürlichen Bergsee Rumäniens. Der tiefste ist übrigens der weiter im Westen des Retezat gelegene Zanoaga – See. Um den zentralen Retezat zu erforschen, ist es eigentlich unabdinglich, mindestens für eine Nacht sein „Basislager“ am Ufer des Lacul Bucura aufzuschlagen. Auch ich habe einen Aufenthalt am Bucura – See geplant, allerdings noch nicht schon jetzt! Es nutzt aber alles nichts, ich schaue erst einmal daß ich die Gestade des Sees erreiche und spekuliere bereits auf eine Zeltnacht am Seeufer.

Ich bin noch nicht unten angekommen, da sehe ich die drei Personen schon auf der Paßhöhe Curmatura Bucurei (2206 m) stehen. Genau diesen Sattel habe ich eigentlich über den Bergkamm nach Überschreitung der Bucura I und Umgehung von Bucura II zu erreichen gedacht, um von dort aus wiederum nordseitig abzusteigen. Es dauert zwar nicht mehr all zu lange bis zum Sonnenuntergang, aber ich wittere die Chance, doch noch heute zur Gentiana - Hütte zu gelangen und so begebe ich mich, kaum mal das Seeufer erreicht, schnurstracks wieder aufwärts zur Paßhöhe, die ich in etwa 15 kräftig gekeuchten Minuten erreiche. Im Schweinstempo schreite ich das bereits in der Abenddämmerung liegende Pietrele – Tal hinab, um schließlich die im dort bereits wieder beginnenden Hochwald gelegene Gentiana – Hütte mit dem allerletzten Fünkchen Tageslicht zu erreichen.

Der Grund, warum mir soviel daran gelegen ist, nochmals auf die Retezat – Nordseite zurückzukehren, liegt darin, daß ich unbedingt noch das seenreiche Gerölltal Valea Rea kennenlernen will. Die Gentiana – Hütte wäre dann der ideale Ausgangspunkt. Im Talschluß der Valea Rea bieten sich dem Wanderer, der nicht mehr auf dem selben Weg zurückkehren will, zwei Alternativen: entweder über den Sattel Saua Zanoagelor (2270 m) zum Gales – See hinunterzuwandeln, oder aber über die Saua Pelegii (2285 m) den höchsten Gipfel des Retezat anzuvisieren, die 2509 m hohe Peleaga, von deren Gipfel aus ein Abstieg auf die Südseite zum Lacul Bucura möglich ist. Letztere ist die Traumtour, die ich mir für den morgigen Tag vorgenommen habe. Die Gentiana – Hütte ist ausgerechnet heute proppenvoll. 40 angehende Bergführer und Bergführerinnen aus verschiedenen Gegenden Rumäniens haben sich hier eingenistet, aber der Hüttenwart, ein älterer, untersetzter Ungar, mit einer derb – sympathischen Art hat noch ein Notbett für mich parat in einem abgetrennten kleinen Raum, wo bereits zwei ungarische Wanderer untergebracht sind. So lerne ich Csaba und Lazlo kennen.

Die Cabana (=Hütte) Gentiana ist wesentlich kleiner, als die Pietrele, und es stehen auch keine zusätzlichen Casute zur Verfügung. Ich finde sie schöner und gemütlicher, wenngleich sie eine reine Selbstversorgerhütte ist, denn der Hüttenwart kocht nur Tee, dieser hat dafür einen legendären Ruf unter Retezat – Wanderern! Der alte Mann erlaubt mir, auf seinem Herd in der Küche zu kochen, ich brauche somit nicht extra meinen Gaskocher anzuwerfen, den ich aus Feuerschutzgründen nur vor der Hüttentür benutzen hätte können. Nach dem Essen werde ich von einer jungen Bukaresterin interviewt. Wie ich denn auf die Idee gekommen sei, in die rumänischen Karpaten zu reisen, was ich sonst noch schon alles gemacht hätte, warum ich allein unterwegs sei, usw. Überhaupt gelte ich unter den jungen Leuten als Exot, man grüßt mich freundlich, manche versuchen, ihre Deutsch –oder Englischkenntnisse anzubringen und stets beäugen mich neugierige Blicke.

Die Schlafgemächer befinden sich direkt unterm Dach, und nachts höre ich Niederschläge herunterprasseln. Neben meinem Bett tropft Wasser durch eine undichte Stelle, ich finde das irgendwie romantisch. Es soll Leute geben, die sich an so etwas stören, die sollten aber besser nicht nach Rumänien reisen. Meine beiden ungarischen Freunde machen sich bereits im Morgengrauen auf den Weiterweg, sie wollen die folgende Nacht am Bucura –See verbringen, was auch in meiner Absicht liegt. Während sie aber den Weg über den Sattel Curmatura Bucurei preferieren, um dann vom See aus weitere Unternehmungen zu starten, will ich mein Glück in der Kombination Valea Rea – Peleaga Gipfel versuchen, und auf diesem Weg zum Bucurasee gelangen. Auch die Bergführeraspiranten brechen zeitig auf, sie werden heute in eine Höhle abtauchen, auch Speläologie gehört mit zur Ausbildung. Beim Richten des Rucksacks entdecke ich, daß sich nachts offensichtlich eine Maus an meiner Schokolade gutgetan hat, es fehlt ein volles Drittel, die Arbeit der Nagezähne hat präzise Schnitte wie von einer Stichsäge hinterlassen. Ich trödle noch ein bißchen, bin jetzt allein mit dem alten Ungarn und dessen Hund. Er bedeutet mir, ich solle warten, er wolle in die selbe Richtung wie ich. So gehen wir zunächst gemeinsam ein Stück weit das Pietrele – Tal abwärts, wo dann bald eine Abzweigung zum anderen Bachufer und schließlich als wildromantischer Waldpfad über Stock und Stein hinüber in die Valea Rea ( = schlechtes Tal) führt. Bei der Brücke verabschieden wir uns, der alte Mann begibt sich mit Axt und Hund zum Holzschlag. Kurioserweise muß er mir über die glitschigen Baumstämme, die zur Überquerung des Pietrele – Baches ausgelegt sind, helfen, da ich mit dem schweren Rucksack etwas wackelig bin. 62 Jahre ist er alt und man sagt ihm nach, er sei noch fit wie ein Turnschuh.

Als die Markierung gelbes Dreieck erscheint, ist dann auch schon die Valea Rea erreicht und es geht jetzt stetig nordwärts das Tal hinauf. Kurz vor Überschreiten der Baumgrenze geht der Regen in Graupelschauer über, als ich dann die einem kalten Wind ausgesetzten Bergwiesen erreiche, schneit es. Hier bleibt der Schnee bereits liegen, schon bei etwa 1700 m, schöne Aussichten für die Peleaga! Der Schneefall läßt gelegentlich nach, um einige Augenblicke später erneut einzusetzen, die Sonne hinterm Milchglas erhält die Hoffnung auf Besserung aufrecht. Wenn der Schneefall verstärkt einsetzt, sorgt der brausende Wind für ein blizzardähnliches Schneegestöber, das Orientierung und Wegfindung sehr unangenehm beeinträchtigt. Glücklicherweise sind auf dem Weg Wintermarkierungen mittels hoher Stangen gesetzt, sonst hätte ich wohl schon frühzeitig umkehren müssen. Aber selbst die Stangen sind im wilden Wirbel der weißen Flocken oft nur schwer auszumachen. Bald erreiche ich den ersten von vielen kleinen Bergseen, die dieses wunderschöne Tal charakterisieren. Ich bin jetzt mitten im Winter, rieche förmlich die kalte Schneeluft, der Wind bläst mir gehörig um die Ohren, und es schneit und schneit ...

Die mich umgebenden Gipfel sind nur schwer auszumachen, der Gipfel der Peleaga ist überhaupt nicht zu sehen. Die Peleaga ist mit ihren 2509 m der höchste Berg im Retezat und deren Besteigung stellt für mich eigentlich schon fast ein „muß“ dar. Ich kenne den Berg jedoch nicht, weder weiß ich, wie gut der Weg zu finden ist, noch ist mir bekannt, ob und welche alpintechnischen Schwierigkeiten unter den jetzigen Umständen da oben auf mich lauern könnten. Ich bin völlig allein unterwegs und glaube nicht, daß ich bei diesem Wetter heute überhaupt noch jemand anderen treffen werde. Da ich keine Lust habe, hier eine Neuauflage von Louis Trenker´s „Die weiße Hölle am Piz Palü“ zu erleben, um dann irgendwann in ein paar Tagen als tiefgefrorener Schneemann aufgefunden zu werden, die hängende Zunge an einem kalten Felsen angefroren, entschließe ich mich, die Peleaga – Besteigung bis auf weiteres zu verschieben und über den Paß Saua Zanoagelor (2270 m) ins Gales – Tal zu gelangen, was in der momentanen Situation schon eine genügend große Herausforderung ist.

Vom Gales – See aus werde ich dann den bereits bekannten Weg zur Pietrele – Hütte nehmen. Der Weg hinauf zur Paßhöhe ist trotz oder vielleicht auch gerade wegen des schlechten Wetters besonders reizvoll. Mit jeder Geländestufe, die ich überwinde, tauchen erneut ein oder meist auch mehrere Bergseen auf, dazwischen ist die Schneedecke beinahe vollends geschlossen, läßt nur noch graue Felsblöcke darunter hervorstarren. Als ich den Sattel erreiche, komme ich endlich aus den Böen und somit aus dem Schneegestöber heraus, und unter mir öffnet sich die Aussicht auf drei weitere prächtige Bergseen, die direkt hintereinander auf verschiedenen Stufen liegen. Um zum Gales – See zu gelangen, darf ich mich aber keinesfalls dazu verleiten lassen, zu diesen Seen hinunterzusteigen, wie mir der jetzt wieder möglich gewordene Blick auf die Karte verrät. Vielmehr muß ich mich nun rechts, Richtung Nordost halten, der Sommerweg spielt allerdings bei den momentanen Verhältnissen kaum noch eine Rolle. Die Blockfelder sind mit der Neuschneeauflage wesentlich angenehmer zu begehen, als das am Vortag noch der Fall war, und so erreiche ich nach einem recht zügigen Abstieg den Gales – See. Hat dieser sich noch zwei Tage zuvor vor mir unter einer Nebeldecke versteckt, so ist mir heute das vorweihnachtliche Naturschauspiel „Gales – See bei Schneefall“ vergönnt.

Ich traversiere am Ostufer, um gleich danach in die Latschenzone einzudringen, wo mir doch promt ein triefend nasser Wandersmann begegnet. Ich kenne den jungen Mann bereits, er war bei unserer Ankunft an der Pietrele – Hütte mit den drei Jungs von der Salvamont (rumänische Bergrettung) zusammen, mit denen wir uns nach Entrichten der für westliche Besucher geringfügigen Nationalparkgebühr noch eine Weile unterhalten haben. Zur Peleaga wolle er, und er schlägt meine Warnungen in den Wind. Er kenne hier im Retezat jeden Felsen und er freue sich richtig auf ein Stück alpinistischen Schwereinsatz. Ich wünsche ihm noch viel Glück und setze meinen Weg fort, hinunter zur Pietrele – Baude. Dort angekommen, erfahre ich, daß meine deutschen Freunde ebenfalls noch anwesend sind. David, so heißt der junge Ungar, dem ich am Gales – See begegnet bin, hatte geglaubt, sie seien bereits abgereist. Als man mir die Hüttentür öffnet, lasse ich mich, froh darüber, ein trockenes und warmes Quartier vorzufinden, erst einmal reichlich erschöpft auf dem Hüttenboden nieder. Meine nassen Klamotten dampfen in der warmen Bude, unsere ungarischen Nachbarn lassen sich heute beim Anfeuern des Kamins nicht lumpen. So bin ich abermals zusammen mit Stefan, Dorle und Sabine, und bin eigentlich froh darüber, sie nochmals angetroffen zu haben, denn es wird ein geselliger Abend bei interessanten Gesprächen, Kartenspiel, sanften Schlafliedern und gruseligen Gute – Nacht - Geschichten. Die Lebensmittel habe ich übrigens auf den Kleiderständer gehängt, da die Drei mir gleichfalls von einem nächtlichen Besuch durch Nagetiere berichtet haben.

Tags darauf erwache ich mit reichlicher Unentschlossenheit. Die erste besteht bereits darin, sich aus dem warmen Schlafsack herauszupellen und die leider nicht trocken gewordenen Klamotten überzustreifen, eine Prozedur, die übrigens während meiner gesamten Retezat – Tour jeden Morgen zu einer erneuten Härteprüfung werden soll. Ich habe bereits am Vorabend meinen drei Zimmergenoss/-innen mitgeteilt, daß ich bei bleibender Wetterlage eventuell mein Glück in den niedrigeren Munti Apuseni suchen werde. Das Wetter ist immer noch schlecht, jedoch nicht mehr ganz so, wie gestern oder vorgestern. Die Wolkendecke gibt zwischendurch sogar ein Stück blauen Himmel frei. Meine drei Freunde werden den Retezat heute auf jeden Fall verlassen, sie wollen zuerst nach Sibiu, der Stadt, in der Dorle studiert (Zitat Dorle: „das Einzige, was ich daran bereue, ist, daß ich zu spät damit angefangen habe, Rumänisch zu lernen!“). Danach wollen sie sich abermals ins Gebirge begeben, das Ziel ist jedoch anbetrachts der Situation noch unklar. Stefan: „Unter den derzeitigen Bedingungen gehen wir auf keinen Fall auf den Fagarasch – Hauptkamm!“ Ich habe mich zwischenzeitlich dazu durchgerungen, es doch noch weiterhin im Retezat zu versuchen, und zwar mit der Nord – Süd – Querung von der Pietrele – bis zur Buta – Hütte, welche sich hinter dem südlichen Hauptkamm in guter Reichweite zum Retezatul Mic (Kleiner Retezat) befindet. Diese Tour ist nicht allzu schwierig und gilt als die populärste im Gebirge. An einem Tag ist sie gut zu bewerkstelligen und bedeutet auch gleichzeitig die Überschreitung beider Hauptkämme, wobei die mir zwischenzeitlich schon bekannte Curmatura Bucurei mit 2206 m den höchsten Punkt auf dem Weg vorstellt. Sollte ich dort scheitern, so wären die Rückkehr zur Pietrele und der Rückzug aus dem Retezat angezeigt.

Bis ich im Speisesaal des Hauptgebäudes gefrühstückt und meinen Proviant durch einen Laib Brot, ein Glas Marmelade und einen Becher Margarine aufgestockt habe, wird es viertel nach Neun. Die Waldwege im Retezat sind immer wieder herrlich, selten sieht man einen derart schönen Bergwald, wie hier. Während ich bei meiner Fagarasch – Durchquerung vor zwei Jahren den Hauptkamm so gut wie nie verlassen habe, kehre ich im Retezat immer wieder zurück in die Bergwaldzone, um tags darauf erneut wieder aufzusteigen. Dieses Auf und Ab lohnt sich jedoch immer wieder, und so bin ich auch heute auf´s Neue entzückt von moosüberzogenen Felsbrocken, Tannenbäumen, die wirklich noch von unten bis nach oben hin begrünt sind, von Moosflechten, die den Waldboden einem Teppich gleich bedecken, dazwischen Pilze aller Farben und Größen, wild durcheinanderliegende, umgestürzte Bäume müssen gelegentlich schon mal überstiegen werden, und Kolonien hüfthoher Farne säumen den Pfad. Stets begleitet mich das Rauschen des Wildbaches, bald sehr nahe, wenn ich direkt an seinem Ufer entlang aufsteige, bald entfernt, wenn sein Rauschen aus der Tiefe zum vielleicht jetzt weit überhalb des Bachbetts weiterführenden Pfad heraufdringt. Dann nehme ich auch in der Ruhe das Gluggern des einen oder anderen Rinnsales wahr, das seinen Weg abwärts sucht, um sich dort mit den tosenden Wassermassen im Talgrund zu vereinigen.

Kurz vor Ankunft an der Gentiana – Hütte, an der mein Weg vorbeiführt, treffe ich den alten Ungarn wieder. Mit meinem Tarzanrumänisch erkläre ich ihm meinen heutigen Weg, und daß ich gestern wegen des Wetters doch nicht über die Peleaga gegangen bin. Wir wünschen uns noch gegenseitig „drum bun!“ (guten Weg), und ein jeder folgt seiner Richtung. Überhalb der Bergwaldzone genieße ich in vollen Zügen den Blick zurück in das wunderschöne Trogtal, wo Nebelfetzen über mit golden leuchtenden Lärchen gespickte Tannenwälder ziehen. Dieser herrliche Bergwald unter mir ähnelt verblüffend den Bildern eines kanadischen „Indian summer“, während man in der alpinen Zone meinen könnte, man befände sich in einer weißen Gebirgslandschaft im menschenleeren Alaska. Gleichwohl grenzen sich jetzt die Klimazonen krasser als sonst voneinander ab, denn derweil ich hier oben durch eine geschlossene winterliche Schneedecke marschiere, trägt die Bergwaldregion noch die wunderbaren Farben des Herbstes.

Während die Sonne immer noch im Clinch mit dem zähen Nebel liegt, bietet sich mir heute eine doch sehr gute Sicht auf die mich umgebenden Gipfel. Gezuckerte Bergrücken gehen nach unten hin in sattes Grün oder fahles, mit phosphornem Grünspan überzogenes Grau riesiger Schuttfelder über, die höheren Berge zeigen indes nur noch Weiß und dunkles, kaltes Granit. Der Aufstieg zum Paß beschwört Gefühlswallungen in mir herauf, die man wohl nur kennenlernt, wenn man so unterwegs ist wie ich jetzt und hier. Es ist windstill, die einzigen Geräusche, die mein Gehör wahrnimmt, sind mein eigener, keuchender Atem und das Stapfen meiner Schritte im frischen, blitzeblanken, jungfräulichen Schnee. Nur gelegentlich erinnern mich Wildspuren daran, daß hier auch noch andere Lebewesen unterwegs sind. Kurz unterhalb des Passes hat jemand in großen Lettern einen Bibelspruch an eine Felswand gepinselt (Psalm 121, wen´s interessiert). Ja, hier in den Bergen kann man wirklich gläubig werden, oder zumindest überkommt einem sehr oft das Gefühl der Dankbarkeit dafür, derlei Herrlichkeiten erfahren zu dürfen, und so habe ich auch heute wieder nahezu das Bedürfnis, auf die Knie zu fallen, um dem Schöpfer, wie auch immer er sich definieren mag, für dieses Erleben zu danken.

Die Wegfindung im Frühwinter fällt mir leichter, als ich es befürchtet habe. Die Konturen des Sommerweges sind mit einem guten Auge oftmals noch auszumachen, auch Wegzeichen finden sich immer wieder. Da hat mir so manche spätfrühjährlich – frühsommerliche Wanderung schon wesentlich größere Schwierigkeiten beschert, wenn riesige Altschneefelder die Wege noch komplett zudecken und so mancher weniger ausgetretene Pfad, im Winterhalbjahr von der Schneedecke geschützt, überhaupt nicht mehr auffindbar ist. Auch der Schnee ist heuer weitgehend gut begehbar, ja schont im Abstieg obendrein sogar noch die Kniegelenke. Von der Paßhöhe blicke ich herab in den Kessel des Lac Bucura, dem Herzen des Retezat. Der kleine See rechts davon, dort bin ich bei meinem „sensationellen“ Abstieg von der Bucura I angekommen, aber jetzt ist die Situation, trotz des zwischenzeitlich wiederkehrenden Nebels, doch etwas übersichtlicher, als vor zwei Tagen. Ich bin schon zur Hälfte herabgestiegen, da vernehme ich Rufen. Als mein Blick der Richtung folgt, sehe ich zwei Personen, die, aus Richtung der Peleaga kommend, soeben den Sattel erreichen. Ich warte. Als die Beiden sich nähern, erkenne ich Csaba und Laszlo wieder, meine ungarischen Freunde von der Cabana Gentiana. Die guten Kerle hatten gestern extra Tee für mich gekocht, wenn ich halb erfroren in der Salvamont – Hütte am Südufer des Bucura – Sees eintreffen sollte, wo wir uns ja eigentlich verabredet hatten.

Wir gehen gemeinsam zur Hütte, wobei wir noch einen kleinen Abstecher in westliche Richtung vornehmen, wo die wunderbar sich in die ernste Gebirgslandschaft einfügenden kleinen Bergseen Florica und Viorica, sowie der größere und noch etwas tiefer gelegene Lacul Ana, einzusehen sind. Ein kurzes Sondierungsgespräch, und ich beschließe, die Nacht mit den beiden hier in der Salvamont – Hütte zu verbringen, um morgen dann gemeinsam zur Buta – Hütte weiterzumarschieren. Auf der Peleaga bat sich heute laut Aussage von Csaba und Laszlo keine Aussicht, trotzdem will auch ich noch zum Gipfel. Erstens könnte sich die Situation dort oben kurzfristig verbessern, zweitens ist noch genügend Zeit für eine solche Unternehmung und drittens weiß ich nicht, ob sich die Chance, die Peleaga zu ersteigen, noch einmal ergibt. Kein Problem, meint Csaba, und er führt mich ein Stück bergaufwärts, wo die frischen Aufstiegsspuren der Beiden sich den steilen Hang hinaufziehen. Sozusagen ein Geschenk, ich brauche nur in der Spur zu bleiben. Ohne zu zögern mache ich mich sofort auf den Weg, ein etwas überhasteter Aufbruch, denn unterwegs fällt mir ein, daß ich meine Landkarte auf dem Tisch in der Hütte liegengelassen habe.

Egal, alles kein Problem, denke ich. So stellt es sich denn zunächst auch dar, bis zum Erreichen des völlig zugenebelten Gipfels. Dann, mit vielleicht etwas übersteigertem Selbstbewußtsein, komme ich auf die fatale Idee, den Abstieg ins Bucura – Joch ohne die Fährten meiner Freunde zu bewerkstelligen, da ich diese auf Anhieb nicht finde. Als ich schließlich in einen kleineren Sattel gelange, finde ich dort die Wegmarkierung gelbes Kreuz, die gleiche Markierung, wie meine Aufstiegsroute. Komisch, denke ich. Wenigstens habe ich den Kompaß mit dabei, und der zeigt an, daß dieser Weg nach Norden führt. Auch der Aufsteig vom Gales – Tal zur Peleaga kommt von Norden, so schießt es mir durch den Kopf. Bloß nicht nach Norden ins falsche Tal absteigen, ich habe mein Gepäck mit der gesamten Ausrüstung am Bucura – See deponiert, ich muß dorthin zurückkehren! Über Blockfelder überklettere ich die direkt vor mir liegende Bergkuppe, in der Hoffnung, dort dann in den Bucura – Sattel zu gelangen. Doch zu meiner Enttäuschung findet sich hier überhaupt keine Wegemarkierung und der Nebel hat keine Lust, sich auch nur ein bißchen zu lichten, um mir durch einen kurzen Blick hinunter meine Orientierung zurückzugeben. Ich Idiot mußte aber auch die Karte unten liegen lassen, ein einziger Blick hätte alles aufgeklärt. Stattdessen beschließe ich kurzerhand, weglos von meiner jetzigen Position aus zur Südseite hin abzusteigen. Ich muß dann wohl zwangsläufig auf den Bucura – See stoßen, so denke ich.

Eine Stunde habe ich gebraucht, um vom Bucura – See aus auf den Gipfel zu gelangen, und der Abstieg zieht sich nun schon unendlich lange hin. Als ich auf die Uhr schaue, ist schon weit über eine Stunde vergangen, und noch immer ist nichts vom See zu sehen. Es nutzt nichts, ich muß solange absteigen, bis ich den Kessel erreiche. Dabei folge ich einem Bach entlang abwärts, als sich dann doch noch der Nebel lichtet, und einen Blick frei gibt, der mir das Herz in die Hose rutschen läßt. Ein wunderschöner großer See erscheint unter mir, aber es ist nicht der Bucura – See! Verdammt noch mal, wo bin ich denn hier? Was für ein Leichtsinn, das mit der Karte! Der See ist nicht mehr von Schnee umgeben und kurz danach beginnt schon der Bergwald. Ergo, ich bin zu tief! Ich steige entlang einer Felswand auf eine Erhöhung, von der aus ich mir etwas Übersicht verspreche. Weiter entfernt entdecke ich die Stange einer Wintermarkierung, rotes Kreuz. Ich muß es versuchen, muß dem Weg aufwärts folgen, abwärts wäre auf jeden Fall verkehrt. Die Uhr zeigt mir Gott sei Dank noch etwas Zeit bis zum Sonnenuntergang an und meine Kondition, eine Trumpfkarte in einem eventuellen Überlebenskampf, wird mich auch noch nicht so schnell verlassen. Allerdings werde ich jetzt ganz schön nervös. Als ich nach einem guten Stück aufwärts eine erneute Geländekuppe erreiche, fällt mir ein Stein vom Herzen, als ich vor mir den Bucura – See und mein geliebtes Salvamont – Hüttchen erblicke. Dort ist David zwischenzeitlich eingetroffen, der sein Peleaga – Abenteuer gestern offensichtlich überlebt hat, es müssen ihm aber, nach eigenem Bekunden, gehörig die Fetzen um die Ohren geflogen sein. Total erleichtert lasse ich mich auf der Holzbank in der Hütte nieder und erzähle sogleich von meiner soeben überstandenen Odyssee. Hinterher ist es immer lustig ...

Während Laszlo und Csaba der in Rumänien ansäßigen ungarischen Bevölkerungsminderheit angehören, kommt David aus der Nähe von Budapest und spricht fließend Englisch. Einerseits für mich ein Vorteil, andererseits vielleicht auch etwas abträglich für das von mir angestrebte Erlernen des rumänischen Idioms. David ist ohne Gepäck unterwegs, will deshalb heute noch zur Pietrele – Baude zurückkehren, ohne sich darum zu scheren, daß er diese erst lange nach Sonnenuntergang erreichen wird. Nicht einmal eine Lampe hat er bei sich, von der Peleaga sei er gestern erst kurz vor 11 Uhr nachts zurückgekehrt. Allerdings kennt er sich im Retezat bestens aus. Seit zehn Tagen hält er sich bereits hier auf und im August waren es ganze vier Wochen. Wir beschließen ein Abkommen, daß wir uns morgen abend an der Buta – Hütte wiedertreffen und den Rest der mir noch verbleibenden Tage zusammen verbringen werden. Er selbst gedenkt, so lange im Retezat zu verweilen, bis ihm die Lebensmittel ausgehen. Durch ihn erfahren wir auch, daß der Hüttenwirt der Cabana Buta bereits den Rückzug ins Tal angetreten hat und uns dort nur noch die Selbstversorgung bleibt. Wir geben ihm noch etwas Geld mit auf den Weg, damit er uns morgen Brot von der Pietrele – Hütte mitbringen kann.

Normalerweise sind für die Wanderer, die am Bucura – See nächtigen wollen, mit Steinmauern als Windschutz umgebene Zeltplätze vorgesehen, da die Salvamont – Besatzung – übrigens zwischenzeitlich auch die an der Pietrele – abgezogen ist, ist es erlaubt, dort zu nächtigen. Die Hütte ist eine echt romantische Unterkunft, allerdings besteht keine Heizmöglichkeit, was unter den gegebenen Umständen auf über 2000 Metern eine erfrischende Nacht verspricht. Leider lassen sich die Nagetiere von der Kälte nicht vertreiben, und nachts erwache ich durch Rascheln und das Klappern einer Konservendose. Ich stehe auf, kann das Viech aber nirgends entdecken. Die ist bestimmt nur am Abfall, denke ich mir und lege mich wieder beruhigt zum Schlafen. Tags darauf finde ich die Tüte mit den Lebensmitteln, die in meinem fahrlässigerweise nicht ordentlich verschlossenen Rucksack waren, angeknabbert. Diesmal war´s ein Schokoriegel, die stehen wohl auf Süßes! In so einem Fall genügt jedoch eine kleine Sezierung mir dem Messer, denn auf einer Selbstversorgertour lernt man sehr schnell, mit den mitgeführten Lebensmitteln zu haushalten. Was man einmal getragen hat, hat zwangsläufig Energieverbrennung verursacht, und sollte dann auch wieder als Kalorienzufuhr an den Körper zurückgeführt werden.

Der folgende Morgen ist schweinekalt, Nebel liegt über dem Hochtal. Die Gipfel, die dem See und unserer Hütte in westlicher Richtung gegenüberliegen, sind jedoch frei, ein heroischer Anblick zur frühen Morgenstunde! Inzwischen wärmt Csaba´s Benzinkocher aus russischen Militärbeständen in bescheidenem Maße das Hüttlein, wir sind jedoch dankbar für jedes Quentchen Wärme und scharen uns um den winzigen Kocher herum, als wär´s ein Kanonenofen. Auch gestern hat Csaba Stunden damit zugebracht, alle möglichen Speisen auf dem kleinen Feuer zusammenzuzaubern. Ständig soll ich mitessen, mir ist es jedoch etwas peinlich, da ich nichts entgegenzusetzen habe. Ich bin sehr wohl auch mit einem gewissen Vorrat ausgestattet, da ich aber mit einer Teilversorgung an den Hütten gerechnet habe, wird es langsam knapp. Den türkischen Kaffe, den die Beiden mir anbieten, lehne ich jedoch nicht ab. Diese Art Kaffee, wie man ihn noch in vielen Ländern der ehemaligen Donaumonarchie bekommt, wird oft verschmäht, ich jedoch verehre ihn.

Die heutige Etappe mag etwas kurz sein, sie ist dafür besonders traumhaft. Wir folgen der Markierung rotes Kreuz, die mich gestern noch gerettet hat, talwärts, bis hinab in verwunschenen Bergwald. Unterwegs stoßen wir immer wieder auf Stellen mit aufgewühlter Erde auf Lichtungen und Bergwiesen, die vermutlich durch Wildschweine verursacht wurden. Wasserfälle, die unter uns in der Schlucht tosen, prächtige Gipfelpanoramen und fantastische Lichtzaubereien, die Nebel und Sonne veranstalten, lassen uns immer wieder innehalten, um einfach nur zu Staunen oder zu fotografieren, wohl wissend, daß es mit unseren Apparaten niemals gelingen wird, die Gesamtheit dieser atemberaubenden Landschaft auf ein Bild zu bannen. Unser Weg führt uns herab bis auf etwa 1600 Meter, wo die Poiana (= Wiese) Pelegii erreicht wird, eine idyllische Waldlichtung, auf der sich auch eine kleine Salvamont – Blockhütte befindet. Sie ist innen etwas düsterer als das Refugium am Bucura – See, dafür sind die Nächte hier unten nicht so kalt. Sicherlich wäre dieser Ort ebenfalls ein geeigneter Übernachtungsstützpunkt, und im Sommer, wenn die Hütte von der Bergrettung belegt ist, eignet sich die Wiese hervorragend zum Zelten. Wir aber wollen noch weiter, den südlichen Hauptkamm, der nun direkt vor uns liegt, überschreiten, um so zur Cabana Buta zu gelangen. Ein kurzes Stück geht es noch abwärts, wobei die Furt des Peleaga – Baches den tiefsten Punkt unserer heutigen Wanderung darstellt. Etwas flußabwärts unserer wackeligen Baumstammbrücke steht ein altes, defektes Staumwehr aus Holz, das beinahe schon einem Biberdamm gleicht.

Von nun an geht es wiederum stetig bergan, zuerst durch Tannenwald, dann über Bergwiesen. Immer wieder drehen wir uns um, wo sich hinter uns prächtige, weißgetünchte Gipfel emporrecken, herrlich grüne Waldbestände sind mit dem grellen Orange der Lärchen besprenkelt und dort unten, ganz winzig, erkennen wir am Waldrand der Wiese Poiana Pelegii das Salvamont – Hüttchen. Das Schauspiel hält nicht mehr allzu lange vor, ruckzuck zieht Nebel vor die Gipfel, und nur wenige Augenblicke später stehen auch wir selbst mitten in der Suppe. In dieser unheimlich anmutenden Szenerie passieren wir die beiden kleinen Seen Lacurile Papusii (1855 m), bis wir dann kurz darauf endgültig die sich zwischen Latschenfeldern und Bergwiesen einschmiegende Passhöhe Saua Plaiul Mic (1879 m) erreichen, wo sich mehrere Wege treffen. Neben dem Wegweiser ragt auch ein die Himmelsrichtungen anzeigendes Metallobjekt in die feuchte Nebelluft. Von nun an geht es wieder bergab, bald schon gelangen wir wiederum zur Baumgrenze, wo wir in dunklen Wald eintauchen, durch den ein steile Pfad uns schließlich hinunter zur Cabana Buta (1580 m) bringt. Mit der Ankunft an der Cabana Buta haben wir die Überschreitung des südlichen Hauptkammes abgeschlossen. Wenn auch der Südkamm des Retezat nicht so hoch und alpin ist, wie sein nördlicher Pendant, so ist er doch ziemlich lang und führt direkt in den Kleinen Retezat, wo sich auch die Gesteinsart des Gebirges ändert. Dominiert im Großen Retezat der Granit, so finden wir im Kleinen Retezat Kalkstein vor.

Die Cabana Buta ist verlassen, wie uns David prophezeiht hatte. Die Hütte selbst befindet sich ein einem sehr guten Zustand, und ist, aus Stein und Holz gebaut, wirklich schön. Besonders freut uns, daß wir haufenweise gehacktes Holz vorfinden. Ansonsten fährt allerlei Krimskrams, vom Sonnenschirm über eine Parabolantenne und einem Kinderauto bis hin zu verschiedenen Werkzeugen und Baumaterialien, um´s Haus herum. Dies und die abgetakelten kleinen Wellblechhütten stören mich nicht, es verleiht diesem Ort die Atmosphäre einer heruntergekommenen Waldarbeitersiedlung mit einem Schuß Wild – West - Romantik. Das Dacia – Wrack und der davor sich ausbreitende Müllhaufen finden allerdings weniger mein Gefallen. Die Eingangstür ist zugesperrt, aber jemand hat eine Schachtel mit ein paar Zigaretten, in der sich auch ein Zehn Euro – Schein befindet, an der Türklinke zurückgelassen. Folglich ist hier in Abwesenheit des Hüttenwirtes genächtigt worden und ich begebe mich über die Holztreppe hinauf zum Balkon des Obergeschosses, wo ich dann auch promt zwei von mehreren Schlafräumen unverschlossen vorfinde. Die Räume und die darin sich befindlichen Betten befinden sich in einem ordentlichen Zustand, weshalb wir beschließen, lieber dort Quartier zu beziehen, anstatt unsere Zelte aufzubauen. Daß die beiden Räume offen sind, führe ich weniger auf den Leichtsinn des Eigentümers zurück, es ist eher eine Versicherung für ihn, daß die Hütte nicht gewaltsam aufgebrochen wird. Nicht jeder Wanderer führt im Retezat sein Zelt mit sich, und es ist auch lange nicht Jedem bekannt, daß manche Hütten über die Wintermonate unbewirtschaftet sind. Wenn dann jemand bei schlechten Witterungsverhältnissen völlig erschöpft kurz vor Sonnenuntergang hier eintrifft und die Hütte verschlosssen vorfindet, dann kann es schon mal passieren, daß er in der Not eine Tür gewaltsam aufbricht, nur um in einem trockenen und windgeschützten Raum Unterschlupf zu finden.

Nach der Quartiernahme begebe ich mich auf Erkundungsgang in die nächste Umgebung. Nur wenige hundert Meter von unserer Cabana entfernt befindet sich eine Einfriedung mit mehreren Schäferhütten, rumänisch Stâna genannt, die aber verlassen ist, die Schäfer sind bereits mitsamt Hunden und Schafen in tiefere Gefielde zurückgekehrt, wo das Klima noch nicht so winterlich ist, wie hier oben. So sehr ich mich immer wieder über ein Zusammentreffen mit den rumänischen Schäfern freue, jenen noch echten Naturburschen, die bekannt sind für ihre Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft in schwierigen Situationen, so sehr gehen mir deren aggressiven Hunde auf die Nerven. Heute kann ich die Stâna jedenfalls passieren, ohne fürchten zu müssen, von einem Rudel wildgewordener Schäferhunde eingekesselt zu werden. Ich überquere den Bach, um seinem Lauf entlang nach oben zu folgen. Dort oben liegt der kleine, romantische Buta – See, in dem auch der Wildbach seinen Ursprung hat. Kurz vor der Stelle, wo der Überlauf des Sees sich in das Bett des Bergbaches ergießt, steht ein Gedenkkreuz, wo ein erst 21 – jähriger vor einigen Jahren sein Leben lassen mußte. Neben dem Lacul Buta befindet sich ein noch etwas kleinerer See, daneben schöne Felsen. Würde ich mich weiter hinauf begeben, so gelangte ich auf den südlichen Retezat - Hauptkamm, wo ich in nordöstlicher Richtung den von uns vor nicht einmal zwei Stunden überschrittenen Sattel Plaiul Mic erreichen würde, während Südwest zunächst auf den Gipfel Vârful Dragsanu (2080m) führt, von dem aus man dann den gesamten Kleinen Retezat auf dem Kammweg durchqueren könnte.

Da ich und David uns eigentlich schon so was in der Art ausgedacht haben, bemühe ich mich heute nicht, noch höher zu gelangen, und genieße lieber die einsame Stille und die schöne Aussicht auf der Wiese zwischen den Ufern der beiden Seelein, wo weißgezuckerte Gipfel den deftig grünen Bergwald einrahmen. Der weit unten sich hinziehende, markante Taleinschnitt soll mir in wenigen Tagen als Rückzugsweg aus dem Gebirge dienen. Durch dieses waldige Tal will ich dann hinunterwandern in die Ortschaft Câmpu lui Neag, von wo aus ich dann voraussichtlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Deva zurückkehren werde. Als ich zur Hütte zurückkehre, lodert bereits ein Lagerfeuer, gerade recht, denn der Abend verspricht kalt zu werden. Gegen halb Sieben trifft David, mit schwerem Gepäck beladen, ein. Er ist praktisch umgezogen, hat seinen vorigen Standort, die Salvamont – Hütte an der Pietrele – Baude, mit Sack, Pack und sämtlichem Proviant verlassen, um seine noch verbleibende Zeit hier an der Buta – Hütte zu verbringen. Besonders freuen wir uns über drei Kilo frisches Brot, das er von der Pietrele hierhergebracht hat. Außer uns treiben sich noch drei junge Katzen an der Hütte herum, eine gute Versicherung vor eventuell unsere Lebensmittel begehrenden Mäusen, weshalb wir die Katzen gut behandeln, sie tagsüber in unseren Schlafsäcken kuscheln lassen und ihnen auch den einen oder anderen Essensrest zukommen lassen. Unter einem klaren Sternenhimmel verbringen wir noch einen geselligen Abend am Feuer. Nachts wird es ziemlich kalt, obwohl wir uns ja „ nur“ noch auf 1580 Höhenmetern befinden. Wären wir diese Nacht oben am Bucura – See zugebracht, hätten wir wahrscheinlich geschlottert wie spanische Kastagnetten zum Flamenco Diablissimo.

Laszlo und Csaba werden in den frühen Morgenstunden bereits aktiv, und als ich meine Nase über den Saum meines Schlafsackes recke, künden sie mir von schönem Wetter, was man drinnen in der düsteren Schlafkammer gar nicht so recht mitbekommt. In diesem Fall entschließe ich mich, doch langsam aufzustehen, um mich davon zu überzeugen, denn nach den vergangenen Tagen mag man es kaum glauben. Und tatsächlich, blauer Himmel und strahlender Sonnenschein! Csaba und Laszlo machen sich schon auf den Weg, während wir mal langsam mit der Frühstückszubereitung beginnen. Ich weiß, daß David ein guter Esser ist, der sich für diese Vorgänge auch immer ausgiebig Zeit lässt. Die Zeremonie zieht sich dann allerdings nahezu vier Stunden hin. Brot, Wurst, Marmelade, dann ein Süppchen, dazwischen Tee, dann nochmal ein Süppchen ...

Um zwölf Uhr mittags machen wir uns schließlich auf den Weg zu einer Bergtour, die man als eine klassische im Retezat bezeichnen kann, und die eigentlich einen vollen Tag beansprucht. David hat diese Route schon mehrmals gemacht, er prophezeiht eine vorraussichtliche Rückkehr gegen 21 Uhr. Das bedeutet, eine Stunde werden wir auf jeden Fall im Dunkeln mit Hilfe der Stirnlampe zurücklegen müssen. David hat während seiner Retezat – Aufenthalte akribisch Buch geführt über sämtliche Wegzeiten, den Routenverlauf selbst kennt er bestens, so daß auch ich für dieses Unternehmen keinerlei Bedenken hege. Außerdem kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren, daß es ihm sogar ein gewisses Vergnügen bereitet, nachts zu wandern.

Zunächst steigen wir hoch in den Sattel Plaiul Mic, von wo aus wir dem Kammweg in nordöstlicher Richtung folgen, hin zum ersten markanten Gipfel Vâful Custura (2457 m). Der Blick vom Kamm aus ist heute ungetrübt und läßt uns fast alle „Größen“ des Retezat in Augenschein nehmen, wie Papusa, Peleaga, das Bucura – Dreigestirn und, von unserer Position aus besonders prägnant und anmutig, der südlich im kleinen Retezat aufragende Vârful Piule (2081 m) mit seiner auffallenden Felswand, die er wie einen Schild vor sich trägt, über dem der schneebedeckte Gipfel in der Sonne glänzt. Im Bereich der Papusa Custurii (2209 m) die wir aus Zeitgründen links liegen lassen, kommen uns unsere beiden Freunde entgegen, sie sind bereits am Abschluß ihrer heutigen Wanderung angelangt, die sie unter anderem gleichfalls auf den Custura – Gipfel geführt hat. Sie wollen wahrscheinlich heute noch in´s Tal zurückkehren, um die Heimreise anzutreten, was ich ein wenig bedauere, ich wäre gerne noch einen Abend mit diesen zwei sympatischen Kerlen zusammen am Lagerfeuer gesessen.

Der vergangene Abend am wärmenden Feuer hat unser aller Lieblingsthema heraufbeschworen: die Berge in und außerhalb Rumäniens. Csaba, der selbst im Einzugsgebiet der Muntii Bihor zuhause ist, kann dabei in Bezug auf die rumänischen Karpaten auf den größten Erfahrungsschatz zurückblicken. Seit mehr als zehn Jahren durchstöbert er zu jeder sich bietenden Gelegenheit sämtliche Ecken und Winkel dieses so umfangreichen Gebirges. Auch große und außergewöhnliche Ziele außerhalb Rumäniens, wie das Nanga Parbat – Basislager (Karakorum, Pakistan) oder die Bergwelt Mazedoniens waren schon Ziel seiner Bergfahrten und gelegentlich konnten wir sogar gegenseitige Erfahrungen über gemeinsame Ziele austauschen, so Fagarasch und Piatra Craiului in Rumänien, sowie Julische Alpen (Slowenien), und Mussala im bulgarischen Rila - Gebirge (höchster Berg der Balkanhalbinsel). Auch wenn wir unter Tags getrennte Aktionen starten, hat sich zwischen uns Vieren eine Art Teamgeist entwickelt, ja durch die Tatsache, daß außer uns vielleicht niemand mehr unterwegs ist, haben wir schon das Gefühl, der Retezat, gehöre uns, und wir kommen uns aufgrund der jetzt herrschenden Einsamkeit und Stille wie die Wiederentdecker einer vergessenen Bergwelt vor.

Über seine wenig steile, aber sich lange hinziehende Flanke gelangen wir schließlich zum ersten Gipfel des Tages, die Custura. Hier trifft der Papusa – Custura – Kamm auf den südlichen Hauptkamm. Die zweieinhalb Kilometer lange Bergkette verbindet südlichen und nördlichen Hauptkamm, wobei der höhere Nordkamm 30 Kilometer lang ist, während der Südkamm es auf eine Länge von 25 Kilometern bringt.

Die Aussicht vom Custura – Gipfel ist umfassend und einfach traumhaft! Jetzt kommt auch der nördlich gelegene, schöne Vârful Mare (2463 m) ins Spiel, nach Osten hin lassen sich Süd- und Nordkamm bis zu ihren Ausläufern verfolgen, während direkt unter uns herrliche Bergseen am Rande verschneiter Kare die umliegenden Berge in ihren Wassern spiegeln. Ein paar kleinere Seen tragen bereits eine dünne Eisschicht, während die größeren Seen der Starre des Winters noch trotzen. Wir steigen wieder ab, wo wir im Sattel Saua Custurii (2205 m) etwa die halbe Länge des Verbindungskammes erreicht haben. Dann wird die Papusa Mica („kleine Puppe“) überstiegen, wobei wir unseren Weg fast ausschließlich am Grat entlang suchen. Der Sommerweg, der wohl etwas weiter unten verläuft, ist unter den gegebenen Umständen unbrauchbar oder nur noch begrenzt benutzbar. Da wir fast ausschließlich auf geschlosssener Schneedecke wandern, richten wir auch keinen Schaden an der Botanik an. Zur Papusa steigen wir über Felsen und Blockfelder in einfacher, spaßiger Kraxelei hinauf, als ob wir den mit Schildplatt besetzten Hals eines Dinosauriers überklettern würden. Die sich bereits bei unserem Abmarsch langsam, aber beständig aufblähenden Wolken ziehen zunächst ins unter uns gelegene Hochtal, um schon bald entlang der Felswände und Blockfelder zu uns hinaufzusteigen, so daß wir binnen Kurzem wieder einmal im Nebel wandeln. Allerdings ist dieser noch nicht so dicht, ein ständiges Auf und Zu wie bei einem Theatervorhang eröffnet uns prächtige Ausblicke, um sie sogleich wieder hinter dichten, erneut heranziehenden Schwaden verschwinden zu lassen.

Mit der Überschreitung des Papusa – Gipfels gelangen wir auf den nördlichen Hauptkamm, zunächst hinunter in den Sattel Saua Pelegii (2285 m). Wäre ich vor wenigen Tagen aus der Valea Rea heraus meine Peleaga – Besteigung angegangen, so hätte mich mein Weg eben in diesen Sattel geführt, und die Aufstiegsroute wäre dann identisch gewesen mit der jetzt von uns begangenen. Durch sich lichtenden Nebel offenbart sich uns dann das seenreiche Tal Valea Rea in seiner winterlichen Pracht, bis uns unterhalb des Peleaga - Gipfels der Nebel völlig verschluckt und wir uns im Innern einer weißen Wolkenglocke wiederfinden, die uns jeder Aussicht beraubt. So kommt es, daß ich die Peleaga zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen besteige, und beides Mal ist von dort oben, außer dem Weiß hundertprozentiger Luftfeuchtigkeit, überhaupt nichts zu sehen. Noch während des Abstiegs lichtet sich jedoch der Nebel und ein atemberaubendes Bild bietet sich uns: direkt über dem Bucura – See schwebt eine Nebeldecke, durch deren bereits labil gewordene Substanz die Strahlen der Sonne wie durch einen Filter fließen, so daß uns die Wasseroberfläche des Sees wie eine riesige Silberplatte erscheint. Dem nicht genug, spitzt sich im Süden die Dramatik weiter zu: die dichte, düstere Wolkendecke über uns hat sich direkt über dem Südkamm mit dem Kleinen Retezat geöffnet und die goldgelbe Abendsonne überflutet nun ungehemmt die gesamte Bergkette. Besonders der außergewöhnliche Piule (2081 m) hebt sich hervor, mit seinem mächtigen Felsschild und dem schneebedeckten Gipfel erscheint er uns, als würde er seine tatsächliche Höhe um gute vier – bis fünfhundert Meter übertreffen. Wieder einmal bestätigt sich mein manchmal nicht ganz ernst gemeinter Standardspruch: „ Es gibt nichts langweiligeres, als ein strahlend blauer Himmel!“.

Als wir endlich über den Bucura Sattel zum See hinuntergelangen, ist es bereits spät geworden. Wir gehen jetzt den selben schönen Weg, den ich erst gestern mit Laszlo und Csaba zurückgelegt habe, nur diesmal in der Abenddämmerung, einfach traumhaft. Die Sonne ist schon seit einer guten Weile hinter den Gipfeln um den sich westlich von uns auftürmenden Vârful Judele (2398 m) verschwunden, doch kommen wir noch lange nach Sonnenuntergang ohne Stirnlampe zurecht. Das menschliche Auge weiß in freier Natur noch das letzte Quentchen Licht auszunützen, so daß wir bloßen Auges noch bis hinauf in den Plaiul – Mic – Sattel gelangen. Erst, als wir im Abstieg zur Buta – Hütte in dichten Fichtenwald eindringen, zücke ich die Lampe, drehe sie an, und ... verdammte Hucke, das gibt´s doch nicht! Ein kurzes, schwaches Lichtlein flackert auf, um gleich darauf den Geist vollends aufzugeben. Scheiß Batterien, kann man sich heutzutage denn auf gar nichts mehr verlassen?! Jetzt wird es für uns aber echt haarig! Hier im Wald ist es so stockfinster, daß man kaum noch die Hand vor den Augen sieht. Mit aller Behutsamkeit tasten wir uns vorwärts, stolpernd, mit ausgestreckten Armen, um nicht Nase voraus irgendwo aufzulaufen, und uns ständig zurufend, damit wir uns wenigstens nicht noch verloren gehen.

Nach einigen bangen Minuten, in denen die größte Befürchtung, daß sich einer von uns durch einen Sturz in der Finsternis ernsthaft verletzen könnte, glücklicherweise nicht eintrifft, vernehme ich das Brechen von Holz, und der Geruch von Feuer dringt an meine Nase. Sollten Laszlo und Csaba es sich doch noch einmal anders überlegt haben? Ganz ausgeschlossen hatten sie es ja nicht, bei guten Wetterbedingungen vielleicht doch noch einen Tag dranzuhängen. Schließlich sehen wir unter uns den Schein des Feuers, wir rufen hinunter. Prompt bekommen wir Antwort und ein Lampenlicht scheint zu uns herauf. Wir atmen auf, gerettet! Als wir erleichtert die Hütte errreichen, sitzen dort tatsächlich unsere Freunde am Feuer. Nach dieser recht strapaziösen, aber auch äußerst bereichernden Tour halte ich es heute nicht so lange draußen aus, denn ich bin müde wie ein Siebenschläfer. Ich esse noch ein wenig, die Socken und Schuhe trocknen noch halbwegs am warmen Feuer, dann ziehe ich mich in den Schlafsack zurück, während die anderen Drei noch eine Weile sitzen bleiben. Die Ohrfeige für das Nicht – Funktionieren der Stirnlampe gebührt übrigens nicht dem Batterienhersteller, sondern mir selbst. Als wir draußen zusammensaßen, hatte ich spaßeshalber noch einmal die vermeintlich alten Batterien eingelegt, um festzustellen, ob die vielleicht doch noch ein bißchen was taugen. Nun, es waren die neuen Batterien, die noch einwandfrei funktionieren. Ich war überzeugt, ich hätte heute morgen bereits den Batteriewechsel vorgenommen, aber ich habe wohl nur daran gedacht, und danach vergessen, es auch tatsächlich zu machen, Schande über mich!

Am folgenden Morgen sind es abermals Csaba und Laszlo, die als erste aus den Schlafsäcken kriechen und uns gleich darauf schönes Wetter vermelden. Wir haben für heute eine Tour in den Kleinen Retezat vorgesehen, genauer gesagt, den Südkamm entlang bis vor zur Piatra Iorgovanului ( 2014 m), ein mit einer ungewöhnlich geformten Felswand gekrönter Berg schon fast am Ende des Kleinen Retezat, nahe dem sich anschließenden Godeanu – Massiv. Csaba rät uns einen zeitigen Aufbruch an, und wir beginnen denn auch um acht Uhr mit dem Frühstück. Mein David läßt sich aber alle Zeit der Welt, stets Optimismus ausstrahlend, wir würden das schon noch schaffen. Jedenfalls ist es wieder einmal zwölf Uhr Mittags geworden, Csaba und Laszlo sind längst ins Tal Richtung Câmpu lui Neag abgestiegen, als wir uns schließlich auf den Weg machen. In gewisser Hinsicht will ich David ja beipflichten, die heutige Wegstrecke ist nicht ganz so weit, wie die gestrige und das Gelände offensichtlich einfacher. Allerdings kennen wir dieses Mal beide den Weg nicht und mir kommen auch Bedenken, ob die Markierungen weiterhin so tadellos sein werden, wie wir sie bislang im Retezat vorgefunden haben, denn der nicht mehr dem Nationalpark angehörende Kleine Retezat wird von Wanderern viel weniger frequentiert. Ich jedenfalls habe derlei schlechte Erfahrungen bereits vor zwei Jahren im Fagarasch gemacht, als ich auf dem kaum begangenen Waldpfad zwischen der Curmatura Zârnei und der bereits zu Füßen der gigantischen Kalkwand des Piatra Craiului (Königstein ) gelegenen Unterkunft Plaiul Foii schier verzweifelte.

Gleich zu Beginn unserer Tour deuten sich meine Befürchtungen schon an: hinter dem überquerten Bachbett sind nur noch verschiedene kleine Trampelpfade zu finden, die vielleicht auch von Waldtieren verursachte Wildpfade sein könnten, und bald stehen wir weglos mitten im Dickicht. Unser Orientierungssinn führt uns dann aber wiederum auf den richtigen, diesmal gut ausgetretenen und markierten Weg, allerdings haben wir schon Zeit und Kraft vergeudet. Wir können jetzt die herrliche Felswand des Piule wunderbar einsehen, und was aus der Entfernung wie eine einzige, massive Wand gewirkt hatte, zeigt sich nun zum Teil in viele wohlgeformte Felstürme fragmentiert. Hier würde wohl mancher Alpinkletterer in Versuchung kommen. Auf Anhieb kann ich keine Haken erkennen, kann mir aber andererseits auch nicht vorstellen, daß eine derart tolle Wand, die von der Cabana Buta aus so gut erreichbar ist, noch jungfräulich sein soll. Ein Schild weist uns auf die Möglichkeit der Besteigung des Piule hin, mir selbst scheint es aber schon zu spät, wenn wir wirklich unser geplantes Ziel Piatra Iorgovanului erreichen wollen.

David aber ist bereits Feuer und Flamme und ich muß sagen, es sieht wirklich verlockend aus. Auch im Hinblick darauf, wie der Berg gestern vom Bucura – Joch aus auf mich gewirkt hat, würde sich eine Besteigung lohnen. Und so geht´s denn schließlich aufwärts durch eine Schuttrinne, ein bißchen Klettern, und dann Spuren schlagen im steilen, überfrorenen Schneehang. Wie Erstbesteiger kommen wir uns vor, als wir uns unseren eigenen Weg hinauf zum Gipfel suchen. Einem Felsaufschwung rechts von uns können wir gleichfalls nicht wiederstehen, er muß überklettert werden. Schließlich finden wir uns in einer weiteren Rinne, wo wir uns durch Schnee und Latschenbewuchs aufwärts wühlen. Der Gipfel überragt die Felswand um einiges mehr, als es aus der Entfernung erscheint, doch bald haben wir es geschafft, wir stehen schnaubend wie die Rösser auf dem Gipfel und genießen die umfassende Aussicht. Prächtig der Blick nach Norden, zurück zum Retezat. Ein kraterartiger Felskessel, in dem sich auch zwei Seen befinden sollen, soll einmal ein paar Freunden David´s für zwei Tage als Zeltplatz gedient haben. Dieser Kessel, der vom Rades – Zlata – Plateau abbricht, ist normalerweise nicht auf Wanderwegen zu erreichen und somit völlig abgeschieden. Von unserem Standpunkt aus sieht er jedenfalls sehr verlockend aus.

Im Osten zieht sich langgestreckt das große Tal der Depresiunea Petrosani mit seinen Bergarbeiterortschaften zwischen den beiden Bergmassiven Muntii Tulisa und Muntii Vâlcan bis vor in den Hauptort Petrosani. Westlich schweift unser Blick über den gesamten Kammverlauf des Kleinen Retezat, die eigentümliche Piatra Iorgovanului bildet dort eine markante Erhebung. Noch weiter hinten erkennen wir die Godeanu – Berge, der blau leuchtende See weit im Hintergrund ist der Stausee Gura Apei, nordwestlich davon beginnen die Tarcu – Berge. Von unserem Standpunkt aus gilt es jetzt, zunächst in den Sattel Saua Scorota (1920 m) zu gelangen, den wir auch noch problemlos erreichen. Doch schon bald beginnen die Schwierigkeiten. Der offizielle Weg geht uns unter´m Schnee verloren, und wir kämpfen uns durch dichte Latschenbestände, ohne einen nur halbwegs vernünftigen Pfad zu finden. Zunächst vermuten wir, daß dieser auf dem Grat verläuft, aber Essig war´s. Ein grausiger Abstieg beginnt jetzt durch dichtesten Latschenurwald. Ständig peitschen uns Zweige ins Gesicht, stolpern wir über Ranken und Wurzeln, fluchen, keuchen, schwitzen, aber es nutzt nichts: entweder wir stoßen auf diese Weise auf einen Pfad, oder wir steigen so weit hinab in das unter uns liegende Tal, bis wir wenigstens die Latschenzone hinter uns lassen und uns über offene Bergwiesen unseren Weiterweg suchen können.

Ich erahne so langsam den Fehler, den wir begangen haben: Wir haben den Weg immer auf dem Grat oder südlich davon vermutet, doch als ich mir jetzt die Karte nochmals genau ansehe, halte ich es für durchaus möglich, daß er auf der Nordseite unterhalb des Grates verläuft. Als wir in einem Blockfeld angelangen, sind wir erst einmal erleichtert, diesem wilden Buschwerk entronnen zu sein. Allerdings haben wir jetzt schon so viel Zeit verloren, daß an einen Weitermarsch bis Piatra Iorgovanului nicht mehr zu denken ist. Wir einigen uns darauf, in den vor uns liegenden grasigen Sattel aufzusteigen, um somit wiederum auf den Hauptkamm zurückzukehren, um von dort aus zum Vârful Dragsanu (2080 m) vorzuwandern und von diesem aus dann den Rückweg zur Cabana anzutreten.

So steigen wir also über Bergwiesen empor, das wunderschöne Tal unter uns bewundernd, wo eine winzig in der Ferne sichtbare Stâna (Schäferunterkunft) den einzigen Hinweis auf die Existenz von Menschen gibt. Bergbäche schimmern im Glanz der Sonne zu uns herauf und weiter unten, wo der Wald beginnt, bekommt das Tal einen harten Einschnitt, wird schmal und ist von senkrechten Felswänden gesäumt. Bald gelangen wir wieder zurück auf die Kammhöhe, von wo aus es nicht mehr weit ist bis zum Vârful Dragsanu (Drachenberg). Der Gipfel an sich hat eine wenig prägnante Erscheinung, er präsentiert sich uns, als wir ihm uns nähern, mehr wie ein Geländehügel denn als ein Berggipfel. Die Aussicht, die er bietet, ist allerdings bestechend. Großer und Kleiner Retezat, Godeanu, Tarcu, Lacul Gura Apei, dazwischen grüne, verlassene Flußtäler, sowie das Tal von Petrosani mit wie auf einer Perlenkette aufgereihten kleinen und größeren Ortschaften, ein Panorama einfach faszinierend und umfassend! Die Frühabendsonne sorgt für köstliches Licht, von Wolken und Nebelschwaden bleiben wir heute verschont.

Zurück geht es dann beschaulich den Kamm entlang, über verschneite Bergwiesen, die schon etwas von mittelgebirglicher Sanftheit übermitteln. Bärenspuren kreuzen unseren Weg, gut sichtbar in den frischen Schnee eingedrückt. Aus dem tiefen Tal zu unserer Linken dringt das dumpfe, entfernte Rauschen des Wassers zu uns herauf. Schließlich werden zwei winzige Seelein unter uns sichtbar, sie liegen überhalb des Lacul Buta und dessen kleinerem Nachbarn, welche wir wenige Augenblicke später ebenfalls von oben her einsehen können. Wir steigen hinunter, zunächst zu den kleineren Seen, dann weiter hinab zum Lacul Buta. Wir lassen uns Zeit, genießen die Abendsonne, schwärmen von der uns umgebenden Natur, erklären den Retezat zum Paradies, und schmieden Pläne für unsere zukünftigen Aufenthalte in den rumänischen Karpaten. Als wir die Hütte erreichen, erschrecken wir schon beinahe, als wir dort zwei weitere Wanderer antreffen, so sehr waren wir schon von der Idee überzeugt, wir Beiden seien im Moment die Einzigen, die im Retezat umhergeistern.

Der Mann und eine Frau werden durch einen Hund begleitet, der allerdings nicht ihnen gehört. Er sei ihnen seit der Cabana Gura Zlata, wo sie vor zwei Tagen aufgebrochen waren, bis hierher gefolgt. Um so besser, denke ich. Jetzt haben wir Katzen, die unser Essen vor Mäusen schützen, Feuer soll angeblich Bären von nächtlichen Besuchen abhalten, und jetzt kommt auch noch ein Hund als treuer Haus – und Hofwächter hinzu. Meine letzte Nacht im Retezat ist inzwischen angebrochen, und während wir kochend und uns unterhaltend zusammen am Feuer sitzen, spannt sich über unseren Köpfen ein sternenklarer Nachthimmel, ein gutes Omen für den morgigen Tag, den ich ja zumindest noch vormittags mit Wandern verbringen werde. Das rumänische Pärchen hatte die letzte Nacht zeltend am Zanoaga – See verbracht. Mit einer Tiefe von 29 Metern ist er der tiefste See in den Karpaten. Im Bereich des Judele - Sattels hatten die Beiden anscheinend mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen, sind dann aber augenscheinlich doch noch wohlbehalten bis zur Buta – Hütte gelangt. Mich treibt indessen schon wieder die Idee um, eines Tages nochmals in den Retezat zurückzukehren, um genau diesen Weg zu gehen, den die Beiden in den vergangenen zwei Tagen zurückgelegt haben, um danach den gesamten Südkamm durch den Kleinen Retezat zu durchschreiten, anschließend das Godeanu – und das sich anschließende Cerna - Massiv zu durchqueren, um als Endpunkt dieser Bergfahrt den berühmten Kurort Baile Herkulane zu erreichen. Was könnte wohl schöner und wohltuender sein, als nach harten, entbehrungsreichen Wandertagen in dampfenden Thermalquellen die geschundenen Knochen wieder auf Vordermann zu bringen!

Am nächsten Morgen mache ich mich früh auf die Socken. Nach einem frugalen Frühstück verabschiede ich mich von David und begebe mich talwärts. Was auf der Landkarte als Straße eingezeichnet ist, ist für einen herkömmlichen PKW praktisch nicht befahrbar. Auf Forstwegbreite wechseln herausstehende Felsen und Steine mit Schlaglöchern, und immer wieder müssen manchmal knietiefe Furten durchwatet werden. Für Fußgänger besteht die Möglichkeit, über ausgelegte Baumstämme ans andere Ufer zu gelangen. Allerdings empfiehlt es sich, gelegentlich lieber nasse Füße in Kauf zu nehmen, da die glitschigen Stämme sehr unfallträchtig sind. Meine Füße sind eigentlich auf der gesamten Retezat – Tour tagsüber nie richtig trocken geworden. Abends und für die Nacht habe ich mir stets trockene Socken angezogen, während ich mich morgens immer wieder dazu überwunden habe, die nassen Socken vom Vortag wieder anzuziehen. Das ist nur am Anfang unangenehm, denn wenn man einmal in Bewegung ist, friert man bald nicht mehr. Dasselbe habe ich übrigens auch mit den anderen Klamotten gemacht, man darf das alles nur nicht so eng sehen!

Der Weg hinunter ins Tal bringt mich vom Winter zurück in den Herbst, der sich heute von seiner nobelsten Seite zeigt. Herrlicher Sonnenschein und eine angenehme Wärme versüßen mir den Abschied vom Retezat. Unter die Tannen mischen sich immer mehr Laubbäume und Lärchen in kräftigen Leuchtfarben, zwischen den Bäumen hindurch blicke ich auf strotzende Felswände, die das Tal begrenzen, schneebedeckte Bergkuppen ruhen dort oben in der Herbstsonne, und ständig begleitet mich das Tosen des Buta – Baches und der ihm zufließenden Gewässer. Zwei Waldarbeiter sind die ersten Menschen, denen ich an diesem Morgen begegne, es folgt wenig später eine Bäuerin, und kurz darauf stoße ich auf die schönen Häuslein der gestreuten Almsiedlung La Finate. In einiger Entfernung passiere ich eine Schafherde, und ehe die Hunde mich entdecken und sich in wildem Bellen erbosen, verschwinde ich schon wieder im herbstlichen Laubwald. Gleich darauf gelange ich zur Klamm Cheile Butii, wo ich zunächst den schweren Rucksack zwischen den Bäumen abstelle, um einem Pfad zu folgen, der immer weiter aufwärts führt, dabei an Steilheit und Rutschigkeit zunimmt und somit kein touristischer Wanderweg mehr ist. Ich bringe heute morgen noch nicht die Geduld auf, dem Pfad bis ganz nach oben hin zu folgen, zumal auch nicht gewiss ist, ob sich die Mühe überhaupt lohnt. Viel lieber wäre ich ins Innere der Klamm vorgedrungen, es führt aber kein Weg hinein. Ich kehre also um und begnüge mich mit einem Blick in die Klamm von deiner Stelle aus, wo die steile Felswand ein Weiterkommen unmöglich macht.

Der sich hinter der Schlucht anschließende Touristenkomplex Cheile Butii macht zumindest von außen einen gepflegten und sauberen Eindruck, vermutlich handelt es sich um eines der ehemals staatlichen Erholungsheime, das zwischenzeitlich privatisiert und renoviert wurde. Ich passiere den Zaun eines bescheiden, aber idyllisch wirkenden Anwesens, hinter dem drei ältere Frauen mit Gartenarbeit beschäftigt sind. Als ich auf Rumänisch frage ob hier auch Busse nach Petrosani verkehren, zeigen sich die älteren Damen entzückt. Woher ich denn komme? Aus Deutschland? Und Sie sprechen Rumänisch? – numai putin (nur wenig) – Doch, doch, das sei schon sehr gut! Wie es mir denn gefalle in Rumänien? Nein Busse würden hier keine verkehren, ich müsse bis zum Ortseingang von Câmpu lui Neag weitergehen. Nun, Tatsache ist jedenfalls, daß selbst geringe Rumänisch – Kenntnisse einem Tür und Tor öffnen und noch dazu macht es Riesenspaß, wenn man merkt, daß man verstanden wird und selbst schon das Eine oder Andere versteht.

Ich erreiche schließlich eine sich in sehr gutem Zustand befindliche Teerstraße, der ich nun Richtung Câmpu lui Neag folge. An einer Brücke spricht mich ein älterer Mann an. Ob ich den Bus nach Petrosani erwischen möchte? Dann aber Beeilung, die Haltestelle sei gleich da vorne, hinter der Kurve. Als ich weiterhaste, treffe ich auf den Busfahrer, der gerade vom Wasser holen kommt. Ich muß zunächst bis Lupeni, um von dort aus Anschluß nach Petrosani zu bekommen. Die Dörfer, die wir durchfahren, liegen allesamt in einer schönen Landschaft, sind aber durch häßliche Plattenbauten und heruntergekommene Industrieanlagen verschandelt. Es sind die Wohnungen und Arbeitsplätze der Minenarbeiter, denn wir befinden uns hier sozusagen mitten im rumänischen Ruhrpott, wo die Steinkohle regiert. Seltsam erscheint mir die Koexistenz des bäuerlichen Lebens neben qualmender Schwerindustrie. Auf der einen Seite sieht man typisch rumänische Landhäuser, wo gackernde Hennen und grunzende Schweine sich im Hof herumtrollen, daneben stehen häßliche,verwahrloste Plattenbauten, verfallene Industrieruinen, und verrostete Rohrleitungen ziehen über hunderte von Metern durch die Landschaft.

Der Anschlußbus nach Petrosani kommt, wie mir versprochen wurde, und als wir in der rumänischen Steinkohlenmetropole eintreffen, die auch schon mal im Zusammenhang mit revoltenähnlichen Streiks in die Nebenspalten der internationalen Gazetten geriet, erscheint sie mir gar nicht mal so häßlich, wie ich sie mir vorgestellt habe, vermutlich deshalb, weil ich so viel schlechtes über diese Stadt gehört habe, daß meine Erwartungen einen gewissen Tiefstpunkt erreicht hatten. Mit dem Mikrobus geht es schließlich weiter nach Hateg. Wurden wir bereits bei der Abfahrt in Petrosani mehr oder weniger in den Kleintransporter eingepfercht, werden dann auch noch unterwegs weitere Fahrgäste aufgenommen, nach dem Motto: Wie viele Leute passen in einen Kleinbus? Trotz unbequemer Unterbringung nehme ich die schöne Landschaft wahr, die am Busfenster vorbeizieht. Die Dörfer in dieser Gegend machen einen recht gepflegten, fast schon wohlhabenden Eindruck, und räumen mit dem Vorurteil auf, daß überall in Rumänien nur die Armut regiert.

Das Städtchen Hateg hinterlässt ebenfalls einen recht angenehmen Eindruck, von hier aus geht es mit dem PKW – Sammeltaxi weiter. Da eine gewisse Zeit verstreicht, ohne daß weitere Mitreisende Richtung Deva aufzutreiben sind, vereinbare ich mit dem Fahrer einen für mich erschwinglichen und für ihn lukrativen Fahrpreis für eine Einzelfahrt nach Deva. Vom in meinem Reisehandbuch als preisgünstig empfohlenen Hotel Decebal scheint nur noch das verrostete Schild an der Hauptstraße zu existieren, auch die Passanten können mir nicht weiterhelfen. Nach längerem Umherirren und Durchfragen komme ich schließlich im Hotel Deva unter. Mein Hauptanliegen ist ein Zimmer mit Dusche, da ich morgen meinen Mitreisenden im Bus nach Deutschland den Duft von acht Tagen und Nächten Retezat ohne Bad und ohne Dusche ersparen möchte. Schade nur, daß ich so spät in Deva angekommen bin, denn die Fahrt, die praktisch rings ums Gebirge führte, hat nahezu fünf Stunden in Anspruch genommen. Der Hausberg von Deva mit seiner Ruine verlocken nämlich zu einer Inspektion. Ich selbst komme aus dem Hegau, einer anmutigen Hügellandschaft, deren Markenzeichen neun burgengekrönte Vulkankegel sind. Der Berg von Deva mit seiner Ruine könnte glatt als zehnter Hegauberg durchgehen. Ein Aufstieg in der Dunkelheit macht allerdings wenig Sinn, zudem habe ich seit dem bescheidenen Frühstück an der Buta – Hütte nichts mehr gegessen und steuere nun schnurstracks das Restaurant an, in welchem ich bei meiner Ankunft bereits gegessen hatte, als noch Zeit blieb vor der Abfahrt des Zuges. Die Kellnerin erkennt mich wieder und zeigt sich erfreut. Ich bestelle, wie beim letzten Mal, Mamaliga als Beilage. Ja, ich weiß schon! Die rumänische Nationalspeise mundet selbstgemacht in der ländlichen Küche einer Bauersfrau viel besser, als im Stadtrestaurant, trotzdem bin ich mit dem Essen zufrieden, hungrig bin ich allemal!

Ich verlasse Rumänien im Regen. Pünktlich um 9 Uhr am nächsten Morgen holt mich der Bus am Bahnhof ab, und während der Fahrt lerne ich Rumänisch, was das Zeug hält. Jedes aufgeschnappte Wort blättere ich sofort in meinem kleinen Wörterbuch nach. Sicher wird der Enthusiasmus mit der Zeit wieder ein wenig nachlassen, aber mein Ziel ist gesteckt: bei meinem nächsten Rumänien – Aufenthalt will ich in der Lage sein, mich in einfacher Konversation zu verständigen. Immer wieder starre ich durch das Busfenster hinaus in die verregnete Landschaft, als wollte ich die Eindrücke förmlich in mich Aufsaugen, auf daß die Erinnerung niemals verloren gehe! Flache, weitflächige Wiesen, durch die vielen Schafherden abgegrast wie ein englischer Rasen, ziehen an mir vorbei. Haben so vielleicht vor zweihundert Jahren die nordamerikanischen Prärien ausgesehen, als dort noch Millionen von Bisons grasten, bevor ihnen Buffalo – Bill und Co. den Garaus machten? Auf enger, kurviger Landstraße passieren wir romantische Dörfer, und in den meist chaotischen Städten, die nicht unbedingt zu den Vorzügen des Landes zählen, pausieren wir, um neue Fahrgäste aufzunehmen. Einerseits freue ich mich auf meine Frau und meine Kinder daheim, andererseits spuken bereits Pläne für eine Wiederkehr in meinem Kopf herum. Gelohnt hat es sich jedenfalls auch diesmal wieder, und wie! Für letzte Zweifler sei noch die Tatsache vermerkt, daß der Retezat - Nationalpark im Jahre 1980 in die UNESCO – Liste als Weltnaturerbe aufgenommen wurde und diese Ehrung hat er wirklich verdient!

Günter Joos, Singen (Bad. – Württh.)

gringojoos@web.de


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